Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
geklaut, und er hat die Angewohnheit, alles, was ihn interessiert, völlig ungeniert anzustarren. Gerade dieses Starren hatte die Aufmerksamkeit der Marines geweckt, und einer von ihnen drohte laut, dass er Harry die dicken Brillengläser in seinen Japsenarsch rammen würde, wenn er nicht sofort woanders hinschaue. Harry hatte sofort gehorcht, aber dieses offensichtliche Zeichen von Schwäche hatte die Marines erst recht angestachelt. Als sie ihm nach draußen folgten und mir klar wurde, dass er nicht einmal gemerkt hatte, was sich da anbahnte, ging ich hinterher. Ich habe etwas gegen Schlägertypen – ein Erbe meiner Kindheit.
Jedenfalls bekamen die Marines es mit mir statt mit Harry zu tun, und es lief nicht so, wie sie sich das gedacht hatten. Harry war dankbar.
Wie sich herausstellte, besaß er ein paar nützliche Fähigkeiten. Er war als Sohn japanischer Eltern in den Vereinigten Staaten zur Welt gekommen und zweisprachig aufgewachsen, weil er jeden Sommer bei seinen Großeltern in der Nähe von Tokio verbracht hatte. Er hatte in den USA das College besucht und angewandte Mathematik und Informatik studiert. Kurz vor Abschluss des Studiums war er in Schwierigkeiten geraten, weil es ihm gelungen war, sich in den Universitätscomputer einzuhacken, den sein Informatik-Professor angeblich hackersicher gemacht hatte. Außerdem kam das FBI Harry auf die Schliche, nachdem er sich Zugriff auf die Computer der zentralen Bausparkassenverwaltung und anderer Finanzinstitute verschafft hatte. Als die National Security Agency von Harrys Husarenstückchen erfuhr, bot man ihm einen Job in Fort Meade an und versprach, sein schon recht stattliches Register an Computerstraftaten zu löschen, wenn er annahm.
Harry blieb ein paar Jahre bei der NSA, verschaffte seinen neuen Arbeitgebern Zugang zu sicheren Regierungs- und Firmencomputersystemen auf der ganzen Welt und lernte dabei auch noch die schwärzesten Tricks der schwarzen Computermagie der NSA. Mitte der neunziger Jahre kehrte er nach Japan zurück, wo er bei einer der großen, weltweit arbeitenden Beraterfirmen als Experte für Computersicherheit anfing. Natürlich hatte man dort seine Vergangenheit gründlich durchleuchtet, aber sein wieder sauberes Vorstrafenregister und der Zauber der höchsten Geheimhaltungsstufe der NSA machten Harrys neue Gönner blind für das, was in diesem schüchternen, jungenhaft wirkenden Mittdreißiger, den sie soeben eingestellt hatten, tief verwurzelt war.
Dass Harry nämlich ein unverbesserlicher Hacker war. Bei der NSA hatte er sich, obwohl die Arbeit anspruchsvoll war, irgendwann gelangweilt, weil alles, was er dort machte, offiziell genehmigt war. In seiner neuen privatwirtschaftlichen Position dagegen gab es Regeln, ethische Maßstäbe, an die er sich halten sollte. Harry nahm nie irgendwelche Sicherheitsverbesserungen an einem System vor, ohne für sich ein Hintertürchen offen zu lassen, durch das er nach Bedarf schlüpfen konnte. Er hackte sich in die Dateien seiner eigenen Firma ein, um die Schwachstellen der Mandanten zu suchen, die er dann prompt ausnutzte. Harry hatte die Fähigkeiten eines Schlossers und das Herz eines Einbrechers.
Seit unserer ersten Begegnung habe ich ihm die relativ unverfänglichen Aspekte meines Handwerks beigebracht. Er war so lange ein Außenseiter, dass ihn schon allein die Tatsache überwältigt hat, dass ich mich überhaupt mit ihm angefreundet habe.
Infolgedessen ist er ein wenig in mich verknallt. Die sich daraus ergebende Loyalität ist nützlich.
«Was liegt an?», fragte ich ihn, nachdem er Platz genommen hatte.
«Zweierlei. Das Erste solltest du, wie ich finde, wissen. Bei dem anderen bin ich mir nicht so sicher.»
«Ich höre.»
«Erstens: Kawamura hatte anscheinend an dem Morgen, als wir ihn beschattet haben, einen tödlichen Herzanfall.»
Ich nahm einen Schluck von meinem Chai Latte. « Ich weiß. Ist im Zug direkt vor meinen Augen passiert. Schlimme Geschichte.»
Betrachtete er mein Gesicht aufmerksamer als sonst? «Ich hab die Todesanzeige im Daily Yomiori gesehen», sagte er. «Eine Tochter von ihm hat sie aufgegeben. Die Beerdigung war gestern.»
«Bist du nicht ein bisschen zu jung, um schon die Todesanzeigen zu lesen, Harry?», fragte ich und musterte ihn über den Rand der Tasse.
Er zuckte die Achseln. «Ich lese alles, wie du weißt. Dafür bezahlst du mich schließlich, unter anderem.»
Das stimmte allerdings. Harry hatte die Hand am Puls, und er besaß die Gabe, Muster im
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