Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Chaos zu entdecken.
«Und das Zweite?»
«Während der Beerdigung ist jemand in seine Wohnung eingebrochen. Ich habe mir gedacht, dass du das vielleicht warst, aber ich wollte es dir trotzdem erzählen, nur für alle Fälle.»
Ich achtete darauf, dass mein Gesicht ausdruckslos blieb. «Wie hast du das herausgefunden?», fragte ich.
Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hosentasche und schob es mir hin. «Ich habe mich in den Keisatsucho-Bericht reingehackt.» Die Keisatsucho ist die Nationale Polizeibehörde Japans, sozusagen das japanische FBI.
«Meine Güte, Harry, an was kommst du eigentlich nicht ran? Du bist sagenhaft.»
Er winkte ab, als wäre es nichts. «Das ist bloß die Sosa, die Ermittlungsabteilung. Die Sicherheitssysteme bei denen sind lachhaft.»
Ich war nicht darauf erpicht, ihm zu verraten, dass ich ihm in seiner Einschätzung der Sosa -Sicherheitssysteme völlig Recht gab -dass ich sogar viele Jahre lang ein aufmerksamer Leser der Sosa- Dateien gewesen war.
Ich faltete das Blatt Papier auseinander und überflog den Inhalt. Das Erste, was mir auffiel, war der Name der Person, die den Bericht verfasst hatte: Ishikura Tatsuhiko. Tatsu. Irgendwie erstaunte mich das nicht.
Ich hatte Tatsu in Vietnam kennen gelernt, wo er für die japanische Behörde für öffentliche Sicherheit und polizeiliche Ermittlungen arbeitete, einen der Vorläufer der Keisatsucho. Da die Regierung durch die Restriktionen, die Artikel neun der Nachkriegsverfassung dem Militär auferlegte, eingeengt war und nicht mehr tun konnte, als einige Leute auf einer «Zuhören und Lernen»-Basis zu entsenden, schickte sie Tatsu für sechs Monate nach Vietnam, wo er das System von Kanälen erkunden sollte, über die der KGB den Vietcong Unterstützung zukommen ließ. Da ich Japanisch sprach, sollte ich ihm helfen, sich zurechtzufinden.
Tatsu war ein kleiner Mann mit der untersetzten Figur, die mit zunehmendem Alter rundlicher wird, und einem sanften Gesicht, das eine gewisse Anspannung verbarg – eine Anspannung, die sich in der Angewohnheit zeigte, Kopf und Oberkörper weit vorzustrecken, so dass es aussah, als würde er von einer unsichtbaren Leine gebremst. Das kastrierte Japan der Nachkriegszeit enttäuschte ihn, und er bewunderte den Weg des Kriegers, den ich eingeschlagen hatte. Ich meinerseits war fasziniert von der verborgenen Trauer, die ich in seinen Augen sah, einer Trauer, die seltsamerweise klarer wurde, wenn er lächelte, und vor allem, wenn er lachte. Er sprach nur wenig über seine Familie, über seine beiden kleinen Töchter in Japan, aber wenn er es tat, dann mit sichtlichem Stolz. Jahre später erfuhr ich durch einen gemeinsamen Bekannten, dass es auch einen Sohn gegeben hatte, das jüngste Kind, das unter Umständen gestorben war, über die Tatsu niemals sprach, und mir wurde klar, woher sein trauriger Gesichtsausdruck rührte.
Als ich nach Japan zurückkehrte, sahen wir uns öfter, aber ich hatte mich von ihm distanziert, als ich mit Miyamoto und dann mit Benny ins Geschäft kam. Seit ich mein Aussehen verändert hatte und in den Untergrund gegangen war, hatte ich Tatsu nicht mehr gesehen.
Was auch gut so war, denn ich wusste aus den Berichten, in die ich mich hineingehackt hatte, dass Tatsu eine Lieblingstheorie hatte: Die LDP beschäftigte einen Auftragskiller. Ende der achtziger Jahre gelangte Tatsu zu der Überzeugung, dass zu viele Hauptzeugen in Korruptionsprozessen, zu viele Finanzreformer, zu viele junge Kreuzritter im Kampf gegen den politischen Status quo eines «natürlichen Todes» starben. Seiner Einschätzung nach gab es da ein Muster, und er entwickelte ein Profil der Schattenfigur im Zentrum des Ganzen und sprach ihr Fähigkeiten zu, die den meinen sehr ähnlich waren.
Tatsus Kollegen glaubten, dass die Gestalt, die er sah, ein Gespenst seiner Fantasie sei, und die Beharrlichkeit, mit der er weiter in einer Verschwörung ermittelte, die andere für eine Fata Morgana hielten, war seiner Karriere nicht gerade förderlich gewesen. Andererseits trug ihm diese Hartnäckigkeit einen gewissen Schutz vor den Mächten ein, die er bedrohte, denn wenn plötzlich auch Tatsu eines natürlichen Todes gestorben wäre, hätte das seinen Theorien nur Glaubwürdigkeit verschafft. Ja, ich konnte mir vorstellen, dass viele von Tatsus Feinden ihm sogar ein langes und ereignisarmes Leben wünschten. Ich wusste aber auch, dass diese Haltung sich schlagartig ändern würde, falls Tatsu der Wahrheit zu
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