Tokio Killer - 02 - Die Rache
viel Angst vor den Überwachungskameras. Zu viel Nachdenken über Harry, über seinen sinnlosen Tod, darüber, wie hart ich ihm noch an seinem letzten Abend zugesetzt hatte.
Und zu viel Nachdenken über Midori, die bange Frage, ob sie sich wieder melden würde, und was sie dann von mir wollen würde.
Auch am dritten Tag ging ich zum Dojo. Ich trainierte besonders lang, wollte Murakami möglichst viel Zeit bieten, um sich zu zeigen, aber noch immer war nichts von ihm zu sehen. Allmählich glaubte ich, dass er einfach nicht mehr auftauchen würde.
Und dann kam er doch. Ich war gerade auf dem Boden und dehnte mich, als ich den Türöffner summen hörte. Ich blickte hoch und sah Murakami, in schwarzer Lederjacke und mit Sonnenbrille, in Begleitung seiner beiden genauso gekleideten Bodyguards in den Raum treten. Wie üblich veränderte sich schlagartig die Atmosphäre im Dojo. Seine Anwesenheit weckte bei allen rudimentäre Flucht- oder Kampfinstinkte, als bekämen sie einen leichten Stromstoß.
«Oi, Arai-san», sagte er und kam auf mich zu. «Lass uns reden.»
Ich stand auf. «Okay.»
Einer der Bodyguards näherte sich. Ich wollte zu meiner Tasche, aber er war vor mir da. Er hob sie auf und hängte sie sich über die Schulter. «Die nehme ich», sagte er.
Ich tat so, als machte mir das nichts aus. Wenigstens das Handy, das noch kleiner war als die Pistole, hatte ich in der Hosentasche. Ich zuckte die Achseln und sagte: «Danke.»
Murakami deutete mit dem Kopf Richtung Tür. «Draußen.»
Mein Pulsschlag war doppelt so schnell geworden, aber meine Stimme klang ruhig. «Klar», sagte ich. «Ich muss nur noch schnell pinkeln.»
Ich ging nach hinten zu den Toiletten. Schon jetzt war ich vom Adrenalin so aufgekratzt, dass ich gar nicht hätte pinkeln können, selbst wenn ich gemusst hätte. Aber dazu war ich auch nicht hier.
Ich suchte nach etwas, was ich als Waffe gebrauchen konnte. Wenn ich etwas Passendes gefunden hatte, würde ich Tatsu anrufen. Vielleicht Seifenpulver, das ich dem Gegner in die Augen schleudern könnte, oder einen Schrubberstiel, der sich abgebrochen als Schlagstock eignen würde. Irgendetwas, das meine derzeit miesen Chancen erhöhte.
Mein Blick huschte durch den Raum, aber da war nichts. Die Seife war flüssig. Falls es einen Schrubber gab, so bewahrten sie den woanders auf.
Verdammt, das hättest du schon viel früher machen sollen. Idiot. Idiot.
Dann entdeckte ich etwas. Hinter der Tür war direkt über dem Boden ein Türstopper aus Messing in die Wand geschraubt. Ich kniete mich hin und versuchte, ihn abzudrehen.
Ich konnte ihn aber nicht richtig packen, weil er zu dicht am Boden war. Und er war mit schätzungsweise zehn Schichten Farbe überzogen und schien so alt zu sein wie das Gebäude. Er rührte sich nicht.
«Scheiße», zischte ich. Ich hätte mit der Ferse drauftreten können, um ihn zu lockern, aber dann wäre vielleicht die Spitze abgebrochen, die in die Wand geschraubt war.
Stattdessen versuchte ich, ihn mit dem Handballen zuerst in eine Richtung zu drücken, dann in die andere. Rauf, runter. Links, rechts. Ich wackelte daran, spürte aber kein Spiel. Verdammt, das dauert zu lange.
Ich klemmte ihn so fest ich konnte zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände und presste ihn gegen den Uhrzeigersinn. Eine Sekunde lang glaubte ich, meine Finger wären abgerutscht, doch dann merkte ich, dass er sich bewegt hatte.
Ich schraubte ihn ganz heraus und stand genau in dem Moment auf, als die Toilettentür geöffnet wurde. Es war einer der Bodyguards.
Er sah mich an. «Alles klar?», fragte er und hielt die Tür auf.
Ich umschloss den Türstopper. «Bloß noch Händewaschen. Komme gleich.»
Er nickte und ging. Die Tür schloss sich hinter ihm, und ich steckte den Türstopper in die rechte Hosentasche.
Natürlich wusste ich nicht mit Sicherheit, dass sie es auf mich abgesehen hatten. Vielleicht war Murakami nur gekommen, um mit mir über das zu sprechen, worüber er schon im Damask Rose hatte reden wollen. Aber das spielte keine Rolle. Es ist wichtig, den Tatsachen frühzeitig ins Auge zu sehen. Die meisten Menschen wollen nicht glauben, dass das Verbrechen, der Überfall oder egal welche Form von Gewalt, die ihnen droht, tatsächlich stattfinden wird. Im Unterbewusstsein wissen sie es, aber sie verdrängen die Tatsachen, bis sie sich nichts mehr vormachen können. Und dann ist es natürlich zu spät, um noch irgendwas dagegen zu tun.
Wenn ich mich irre, dann nur in der
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