Tokio Killer - 02 - Die Rache
irrst dich», sagte ich.
«Warum bist du dann hier?»
Ich sah ihn an. «Ich werde dir in dieser Sache helfen. Aber es hat nichts mit Midori zu tun.» Einen kurzen Moment lang sah ich Harry vor mir, dann sagte ich: «Nein, du wirst mir helfen.»
Die Kellnerin brachte seinen Tee und ging wieder.
«Was ist passiert?», fragte er.
Mein erster Reflex war, es ihm nicht zu erzählen, um Harry zu schützen, wie ich es immer getan hatte. Aber das war ja jetzt egal.
«Murakami hat einen Freund von mir getötet», sagte ich. «Einen jungen Mann namens Haruyoshi. Ich denke, Yamaoto hat ihn benutzt, um mich zu finden. Und als sie dachten, sie hätten bekommen, was sie wollten, haben sie ihn erledigt.»
«Das tut mir Leid», sagte er.
Ich zuckte die Achseln. «Das passt dir doch gut in den Kram. Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wäre ich vielleicht sogar misstrauisch geworden.»
Ich bedauerte diese Bemerkung, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. Tatsu hatte zu viel Würde, um überhaupt darauf zu antworten.
«Jedenfalls möchte ich, dass du ein paar Nachforschungen für mich anstellst», sagte ich.
«Gut.»
Ich schilderte ihm, wie Kanezaki Harry gefolgt war, dass Midoris Brief der Auslöser gewesen war, dass Yukiko und das Damask Rose irgendwie mit der Sache zu tun hatten.
«Ich werde sehen, was ich herausfinden kann», sagte er.
«Danke.»
«Dein Freund war … jung?», fragte er.
Ich sah ihn an. «Zu jung.»
Er nickte, seine Augen blickten traurig.
Ich dachte daran, wie er sich das erste Mal wegen Murakami mit mir getroffen hatte, wie seine Kiefermuskulatur sich angespannt und entspannt hatte, als er mir erzählte, dass Murakami vermutlich mit dem Mord an einem Kind zu tun hatte. Ich musste ihn fragen. «Tatsu, gab es mal … hattest du einen Sohn?»
Langes Schweigen trat ein. Er musste erst die Erkenntnis verarbeiten, dass ich etwas über diesen Aspekt seinen Privatlebens wusste, und er musste entscheiden, wie er darauf reagieren wollte.
«Ja», sagte er schließlich und nickte. «Er wäre im letzten Februar zweiunddreißig geworden.»
Er schien die Worte sorgsam abzuwägen und sogar sorgsam auszusprechen. Ich fragte mich, wann er zum letzten Mal darüber geredet hatte.
«Er war acht Monate alt, gerade abgestillt», fuhr er fort. «Meine Frau und ich waren schon lange nicht mehr gemeinsam ausgegangen, und wir engagierten einen Babysitter. Als wir nach Hause kamen, war das Mädchen ganz aufgewühlt. Sie hatten den Kleinen fallen lassen, und er hatte eine Prellung am Kopf. Er hatte geweint, so erzählte sie uns, aber jetzt schien es ihm wieder gut zu gehen. Er schlief. Meine Frau wollte sofort mit ihm zum Arzt, aber wir sahen nach ihm, und er schien ganz friedlich zu schlafen. Warum sollten wir den Kleinen unnötig aus dem Schlaf reißen?, fragte ich. Wenn mit ihm irgendwas nicht stimmen würde, müssten wir es doch merken. Meine Frau wollte glauben, dass alles in Ordnung war, und so konnte ich sie überzeugen.»
Ich trank einen Schluck Tee.
«Am Morgen war das Baby tot. Der Arzt sagte, die Ursache sei ein subdurales Hämatom gewesen. Er sagte auch, selbst wenn wir den Kleinen sofort ins Krankenhaus gebracht hätten, wäre jede Hilfe zu spät gekommen. Aber natürlich werde ich mir mein Leben lang die Frage stellen, ob es nicht doch was genützt hätte. Denn ich hatte schließlich die Wahl, verstehst du? Es hört sich vielleicht schrecklich an, aber es wäre leichter für mich gewesen, wenn mein Sohn sofort gestorben wäre. Oder wenn der Babysitter nicht so ehrlich gewesen wäre und einfach nichts gesagt hätte. Derselbe Ausgang und doch etwas völlig anderes.»
Ich sah ihn an. «Wie alt waren deine beiden Mädchen, Tatsu?», fragte ich.
«Zwei und vier.»
«Mein Gott», murmelte ich.
Er nickte, ohne gespielten Stoizismus. «Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste», sagte er. «Eine größere Trauer gibt es nicht. Ich habe lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, mir selbst das Leben zu nehmen. Teilweise in der Hoffnung, dass ich dann vielleicht mit meinem Sohn wieder vereint würde, dass ich ihn trösten und beschützen könnte. Teilweise als Buße dafür, dass ich ihm Unrecht getan hatte. Und teilweise einfach, um meinen Schmerz zu beenden. Doch meine Pflicht gegenüber meiner Frau und meinen Töchtern war größer als diese irrationalen und selbstsüchtigen Impulse. Irgendwann konnte ich den Schmerz dann als Strafe sehen, als mein Karma. Aber dennoch, ich denke jeden Tag an meinen kleinen
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