Tokio Total - Mein Leben als Langnase
ich mich. »Du bist doch am wichtigsten!«
Solche Äußerungen waren sprachlich immer etwas riskant für mich. Mein Japanisch reichte jetzt, im zweiten Jahr als Korrespondent, zwar für umgangssprachliche Nettigkeiten aus, aber ich bekam die Zwischentöne oft nicht hin. Dann kippte ein Kompliment um zur plumpen Anmache, oder es klang umgekehrt so schwach, dass es abwertend ankam. Doch diesmal schien ich den beabsichtigten Ton einigermaßen getroffen zu haben.
»Das sagst du sicher nur so.«
Akiko war zwei Köpfe kleiner als ich, kam mir aber durch ihr burschikoses Auftreten immer etwas größer vor. Viele Japanerinnen kleiden sich wie kleine Mädchen und geben sich betont feminin mit vielen Rüschen und kurzen Röckchen. Akiko machte das nicht mit. Sie trug T-Shirt und Jeans.
Kenji stieg die Treppe hinauf. Er hatte Anzughose und
Hemd an, wie ich. Jacketts sparen sich die meisten Arbeitnehmer im Hochsommer.
»Wie wäre es mit der Izakaya mit Gerichten aus Yamanashi?«, schlug Kenji vor. Eine Izakaya ist eine Kneipe im japanischen Stil. Die Präfektur Yamanashi grenzt an Tokio - das verhält sich also etwa so, als böte ein Laden in Berlin Spezialitäten aus Brandenburg an.
Wir waren schon öfter da gewesen. Es bedienten eine ältliche Wirtin, ihre Tochter und ihre Enkelin. Die Männer der Familie kochten: der ältliche Wirt, sein Schwiegersohn und ein Junge. Ich hielt ihn für den Freund der Enkelin. Die mittlere der drei Frauen brachte uns dampfend heiße Tücher, um Hände und Gesicht zu erfrischen. Kenji und ich tranken Bier, Akiko einen Oolong-Hi, eine Mischung aus halbfermentiertem Tee und Reisbranntwein auf Eiswürfeln.
»Wir machen jetzt immer besonders viele Überstunden, weil in der Wirtschaftskrise die Aufträge weggebrochen sind«, erzählte Kenji von seinem Arbeitstag.
Ich machte Laute des Erstaunens.
»Es gibt zwar weniger zu tun, aber unser Abteilungsleiter hält größere Anstrengungen für ein Allheilmittel gegen die Krise«, fuhr Kenji fort.
»Was macht ihr in der ganzen Zeit?«
»Wir tun so, als seien wir schrecklich beschäftigt, bis der Chef spätabends endlich geht. Ich lasse die jüngeren Kollegen Akten digitalisieren, die schon ewig herumstehen.«
»Wir haben auch weniger Aufträge, aber dafür gehen wir jetzt schon am frühen Nachmittag nach Hause, wenn nichts anliegt«, sagte Akiko. Sie arbeitete bei einem deutschen Unternehmen. Ihr Chef lehnte sinnlose Überstunden ab.
Auch ich erzählte von meinem Abend. »Ich war Diensttrinken mit einem Haufen alter Knacker aus der Industrie, die mir Sazae-Schnecken verbieten wollten. Angeblich, weil Ausländer das nicht essen können.« Akiko machte amüsierte Laute des Erstaunens.
Während der zweiten Runde vergaßen wir den Beruf und redeten stattdessen über die Breite der Nudeln, die vor uns in der Suppe schwammen. Das sind typisch japanische Gesprächsthemen - simpel und konkret wie die Sommerhitze oder die neue Frisur eines Ansagers im Fernsehen. Jetzt waren es die Nudeln.
»Diese Hôtô sind noch breiter, als Hôtô sonst schon immer sind«, behauptete Kenji. Er hatte die Nudelsuppe bestellt, weil er noch nicht zu Abend gegessen hatte. Außerdem trinkt in Japan keiner was, ohne auch zu essen.
»Also, mir kommen diese Hôtô ziemlich normal vor«, fand Akiko, ließ eine Nudelprobe über ihrer Schale von den Stäbchen herunterhängen und beäugte sie vor dem Einschlürfen. Japaner saugen Nudeln direkt aus der Schale in den Magen.
Kenji und ich blickten unsere Nudeln ebenfalls an und machten Laute des Zuhörens, die denen des Erstaunens ganz ähnlich sind, aber am Ende nicht in die Höhe gehen.
Atami, 1995
Das erste Mal hatte ich diese Laute ziemlich genau vierzehn Jahre vorher gehört - von demselben Kenji. Ich war 1995 mit dem Rucksack durch Japan gereist und blieb die erste
Woche bei einer Gastfamilie, die mir Verwandte vermittelt hatten. Damals hatte ich die Laute des Erstaunens bei jüngeren Japanern noch für ein reines Zeichen von Blödheit gehalten und ihren praktischen Wert nicht erkannt. Mir war außerdem nicht klar, dass ich umgekehrt als Ausländer erst einmal viele große Laute des Erstaunens hätte machen sollen, statt den Japanern etwas über Deutschland und über Japan zu erzählen.
In den Monaten davor hatte ich »Langenscheidts Praktisches Lehrbuch Japanisch« durchgearbeitet, aber das reichte noch längst nicht für echte Konversation. Die Verständigung lief damals noch in lückenhaftem Englisch ab.
Ich saß
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