Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Er schaute nur verwirrt.
Als sich jedoch hinter dem nächsten Vorhang das eigentliche Lokal öffnete, war ich für die Behandlung als Außenseiter entschädigt. Der Laden lag im zweiten Untergeschoss eines Wolkenkratzers, doch der Innenarchitekt hatte die Atmosphäre
eines Wirtshauses in der Bergeinsamkeit geschaffen. Die Illusion war so perfekt, dass der Besucher hinter den Papierfenstern die grün schimmernden Terrassen von Reisfeldern zu erahnen glaubte. Dahinter verbargen sich in Wirklichkeit dicke Betonwände.
Jede Gruppe von Gästen saß in einem eigenen stilisierten Häuschen an einem niedrigen Tisch. Den Boden bedeckten traditionelle Tatami, also schwere goldgelbe Matten aus Reisstroh und Binsen. Zu den Eingängen der Hütten führten Trittsteine, zwischen die grober Kies gestreut war wie im Steingarten. An einer Wand ergoss sich ein kleiner Wasserfall in einen Bach, der ein Rad mit Bambuskellen antrieb. Die Jungen und Mädchen vom Personal hatten traditionelle japanische Yukata an und brachten uns eine Speisekarte, die scheinbar per Hand auf eine Schriftrolle aus Bambusstreifen gepinselt war.
Yamahira-san füllte alle unsere Biergläser auf, die wir dann erhoben: »Kanpai!« - Prost.
Wir waren an diesem Abend sechs Leute, darunter ich als einziger Ausländer, wir alle in Hemd und Anzughose, der Standarduniform im Tokioter Sommerleben. Ich weiß bis heute nicht, ob ich diese Treffen als Arbeit betrachten sollte oder als Vergnügen. Yamahira-san, sein Kollege und ich waren Journalisten. Wir versuchten an diesem Abend, aus den drei Wirtschaftsleuten herauszubekommen, was gerade in ihren Unternehmen passierte. Warum die Manager mit uns trinken gingen, weiß ich nicht so genau. Es kann nur zum Teil damit zu tun haben, dass wir die Rechnung bezahlten. So ungeheuer teuer war das Essen nicht. Vielleicht wollten sie sich wichtig machen, vielleicht wollten sie einfach Kontakte
knüpfen. Yamahira-san, Universalredakteur für völlig verschiedene Themengebiete bei einer großen Zeitschrift, führte die Regie.
Als unsere Gläser mit Bier, Sake und Reisbranntwein plötzlich klirrend wackelten, blickte ich ängstlich auf. Ein Erdbeben? »Nein, Finn-san, das war nur die U-Bahn, die hinter dieser Wand fährt«, sagte Yamahira-san.
Als ich den Seeigel aß, spürte ich sechs Paar diskreter Blicke auf mir. Noch auffälliger zu starren wäre unhöflich gewesen. »Er isst tatsächlich Seeigel«, meldete sich schließlich einer. »Wow, Mayer-san, das ist ja toll.« - »Aber irgendwie ist er ein komischer Ausländer!«
Das alles war fürsorglich gemeint, aber es nervte. Langfristig war es vielleicht sogar gefährlich für die Psyche. Ich hatte an älteren Japanveteranen eine gefährliche Sucht nach dieser übersteigerten Aufmerksamkeit beobachtet. Nach Jahrzehnten im Land haben sie sich daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen. Denn für die Japaner bleiben wir immer faszinierend: langnasige Wesen, die natürlich keine richtigen Menschen sind, aber irgendwie sprechen und Sashimi essen können - fast wie sie selbst. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich an diesem Abend dabei sein durfte.
Wie immer in Japan hatten wir gemeinsam bestellt und aßen auf kleinen Tellerchen jeder von allem etwas. Als mein Tischnachbar, Mitarbeiter eines Großunternehmens, mir ungefragt alle Gerichte erklärte, machte ich brav die typischen Laute des Erstaunens, die in Japan einen guten Teil der Verständigung ausmachen. Um sie hervorzubringen, stoßen die Nipponesen einen langgezogenen Laut summend durch die Nase aus: »Hnnnnnnnnn!«
Mit diesen Lauten lässt sich notfalls ein ganzes Gespräch bestreiten. Für Japaner haben sie den riesigen Vorteil, sich inhaltlich nicht festlegen zu müssen. Sie können die Interpretation schön vage ihrem Gegenüber überlassen. In diesem Fall meinte ich: »Du langweilst mich und erzählst mir nur Sachen, die ich längst weiß!«, aber bei meinem Gegenüber kam an: »Nein, wie faszinierend, endlich eröffnet sich mir das wahre Japan. Bitte, nur weiter so!«
Die Kellnerin in Yukata mit Headset brachte eine Schale mit Kreiselschnecken, japanisch Sazae. Das Fleisch dieser Seeschnecken schmeckt leicht nussig und leistet beim Draufbeißen angenehm knackend Widerstand. Eine Delikatesse. Der Kellner stellte die Schale zufällig in meine Nähe. Yamahira-san streckte die Hand danach aus.
»Achtung, Finn-san, das sind Schnecken, so was mögen …«
»… Deutsche sehr wohl!«, rief ich, packte die Schale und
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