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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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hob eine Schnecke auf mein Tellerchen. Eigentlich hätte ich erst Zurückhaltung üben und anderen Anwesenden den Vortritt lassen müssen.
    »Außerdem mag ich auch Eingeweide und, wie Sie gesehen haben, Seeigel .« Das war nun bereits ziemlich dreist von mir.

    Wenn es eines gibt, wovon alle Japaner fest überzeugt sind, dann ist es die Einzigartigkeit ihrer Kultur. Kein Ausländer wird jemals die Essgewohnheiten auf den heiligen Inseln durchschauen, und kein Ausländer wird jemals all die kleinen Regeln des Miteinanders verinnerlichen. Zumindest glauben das die Japaner fest, denn sie lernen es bereits als Kinder. Auch die Deutschen, die Briten oder die Franzosen
halten sich für etwas Besonderes. Aber welcher Deutsche denkt schon, dass ein Ausländer seine Liebe zur Currywurst nie verstehen wird?
    Die Japaner haben jedoch gute Gründe, an ihre eigene Sonderlichkeit zu glauben. Der wichtigste davon dürfte sein, dass sie selbst ihr Land offenbar nur mühsam begreifen. Fernsehsendungen erklären viele Stunden am Tag japanische Spezialitäten und ihre Essweise. Ganze Bibliotheken befassen sich mit dem richtigen Gebrauch der Höflichkeitssprache. Wenn Japaner mir gegenüber zu einer langen Erläuterung ausholen, wie ich mit der U-Bahn von A nach B fahren kann, fühle ich mich veräppelt. Doch viele von ihnen finden das Tokioter Liniennetz selbst ziemlich kompliziert. Umsteigetipps gelten als beliebtes Gesprächsthema.
    Japanische Touristen tappen ihrerseits oft hilflos durch Venedig, München und all ihre anderen Lieblingsziele, wenn sie mal als Individualtouristen hinfahren. In Rom hat kürzlich ein japanischer Tourist eine Rechnung von 695 Euro für ein Mittagessen bezahlt, weil der Wirt eben diese Summe verlangt hatte und der Gast nicht widersprechen wollte. Der Fall wurde ziemlich bekannt, da der italienische Tourismusminister sich im japanischen Fernsehen dafür entschuldigte. Die Nipponesen nehmen daher an, wir Europäer würden uns in Japan ebenfalls schwertun. Außerdem stellen sich weiße Langnasen in den Vorabend-Fernsehserien grundsätzlich ungeschickt an. Sie ziehen am Eingang die Schuhe nicht aus und strecken ihrem Gegenüber einen Arm für den Handschlag hin, obwohl eigentlich eine Verbeugung üblich ist. Dazu gehört auch der Amerikaner aus der Werbung von McDonald’s: »Mr. James« trägt knallbunte Hemden, spricht
Japanisch mit einem völlig übertriebenen Ami-Akzent und benimmt sich überhaupt unheimlich putzig.
    Ein »komischer Ausländer«, wie mich Yamahira-san genannt hatte, ist daher nicht etwa ein Fremder, der den rohen Seeigel in den Grüntee des Tischnachbarn dippt, weil er denkt, das sei die Soße dafür. Nein, das wäre ein normaler Ausländer. Ein komischer Ausländer ist ein Nichtjapaner, der Seeigel zu essen versteht.

    Als wir viele Gänge und Sake-Runden später wieder oben vor der Tür standen, seilte ich mich ab. Yamahira-san organisierte zwar noch einen »Zweittreff«, also den nächsten Stopp in einer Kneipentour, aber ich ahnte, dass er mich nach dem Seeigel-Aufstand piesacken würde. Ich schob daher einen frühen Termin am nächsten Morgen vor und murmelte vor mich hin, dass ich heute Abend noch einiges im Büro zu tun hätte wegen der Zeitverschiebung zu Deutschland. In den Gängen unter dem Hochhaus suchte ich den Durchgang zur U-Bahn und zog mein Handy aus der Tasche.
    »Moshi, moshi!«, meldete sich eine Stimme.
    »Kenji?«, fragte ich.
    »Ja, ich bin’s, Kenji.«
    »Bist du noch im Büro?«
    »Leider.«
    »Wollen wir am Götterfreudenhügel noch ein Feierabendbier trinken?«
    »Zufällig geht der Chef gerade, ich kann jetzt also auch los.«
    »Vor Ausgang B3.«
    Als Nächstes schickte ich meiner alten Freundin Akiko eine Kurznachricht: »Wollen wir was trinken gehen? Wir könnten
uns in 20 Minuten am Kagurazaka treffen, Iidabashi B3. Kenji kommt auch.«
    Am Götterfreudenhügel, auf Japanisch Kagurazaka, trafen wir uns öfter. An dem Kanal zu seinem Fuß liegt ein Caféboot mit Blick auf die S-Bahn-Linie am anderen Ufer. Von dort zieht sich eine Straße mit hunderten Bars und Restaurants einen Abhang hinauf in Richtung eines buddhistischen Tempels. Links und rechts werben steile Schriftzeichen für Grillläden, Sushimeister oder Nudelküchen. Akiko kam als Erste die Treppe von Ausgang B3 herauf.
    »Soso, du triffst dich also eigentlich mit Kenji, und ich werde nur dazugeladen.«
    »Das war nur zufällig die Reihenfolge, in der ich euch Bescheid gesagt habe«, verteidigte

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