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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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staunte. Ich zählte erst einmal die verschiedenen Köstlichkeiten, indem ich mit den Stäbchen auf jede einzelne zeigte. Es waren 30 verschiedene kleine Gerichte. Da gab es eine dünne Scheibe Entenbrust, eine Garnele, ein Wachtelei, etwas Huhn mit Currygeschmack, ein Stück spröden Fisch mit roter Haut und einen saftigen Fisch mit bläulicher Haut. Ein grünes Gemüse schmeckte nach Sesam, und ein Stück Kartoffel war süß glasiert. Am Rande fanden sich noch bunt eingelegte Stücke von Rettich und Aubergine, gedünstete Lotuswurzelscheiben oder kleine gebratene Pilze, alles winzig, aber zusammen genommen eine ganze Menge zu essen. Und das war an einem Bahnhof gekauft! Ich lehnte mich zufrieden in meinem Sitz zurück und blickte den Gang des Großraumwagens entlang. Mein Blick fiel auf den Schaffner, der gerade durch die Tür des Wagens gekommen war. Er nahm seine Schirmmütze ab, hielt sie sich vor den Bauch und verbeugte sich tief vor seinen Fahrgästen. Dann prüfte er die Fahrkarten - eigentlich völlig überflüssig, dachte ich, es gibt doch Sperren am Bahnhof.
    Als er meine Reservierungskarte erblickte, verbeugte er sich und sagte: »Train goes not to Kyoto, goes to Tokyo.« (Japaner nehmen grundsätzlich an, dass Ausländer ihre Sprache nicht können. Damals fand ich das praktisch. Es fing erst an zu nerven, als ich besser Japanisch konnte.) Ja, ich saß im richtigen Wagen, auf dem richtigen Platz, worauf ich mir einiges eingebildet hatte, aber ich fuhr in die falsche Richtung. Ich hatte zwar gewusst, in welcher Richtung Kioto lag. Doch ich hatte nicht bedacht, dass die Züge hier auf dem linken Gleis fahren.

    In der ersten Woche hatte ich immer einen Japaner dabei gehabt, der mir schon vor der Gefahrenstelle auf Englisch ins Ohr flüsterte, was ich zu tun hatte. Jetzt ahnte ich, dass ich Japan bisher auf dem einfachsten Schwierigkeitsgrad gespielt hatte.

    Im Jahr 1995 stand der Yen zwar hoch, doch die Reise war gar nicht sonderlich teuer. Zum Frühstück aß ich immer das gleiche Currybrötchen, das die Minimarktkette Lawsons anbot. Mittags bestellte ich beim jeweils nächstgelegenen Nudelmann dicke Weizennudeln mit süßem Tofu, weil mein Sprachführer diese Bestellung zufällig als Beispielsatz anbot: »Kitsune-Udon wo onegai shimasu.«
    Meine Bleibe in Kioto gehörte nicht zum Jugendherbergsverband, sondern war als »Volksherberge« ausgewiesen - so japanisch wie es irgend geht. Ich hatte den Ort ziemlich suchen müssen und war dafür einige Kilometer auf einer einsamen Landstraße entlanggewandert. Zwischendurch fuhren mehrere Omnibusse an mir vorbei. Ich würde nie erfahren, wo sie abfuhren. Links und rechts erstreckten sich Büsche, aus denen Zikaden girrten. Riesige Farne ließen mich an Urzeitfilme denken. Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn zwischendurch ein Tyrannosaurus seinen Kopf aus dem Dickicht gestreckt hätte. Heiß genug war es jedenfalls, und klebrig durch die hohe Luftfeuchtigkeit. Eine handtellergroße Libelle griff mich an und landete in meinem Nacken. Unter den Rucksackriemen wurde mein T-Shirt klatschnass. Schweißtropfen fielen auf den Stadtplan, den ich am Bahnhof gekauft hatte. Mir fiel auf, dass beide Flüsse, die ich überquerte, ordentlich in schnurgeraden Betonrinnen flossen.

    Die Rezeption bestand nur aus einer Kasse neben dem Eingang. Nach einigem Rufen kam von hinten eine Frau in Schürze hervor, fragte, ob ich der »Mayer« mit der Reservierung sei, gab mir meinen Schlüssel und zeigte nach oben. Das Zimmer lag im ersten Stock. Ich griff meinen Rucksack und begann, die Treppe hochzustapfen.
    Ich brauchte bis zum ersten Treppenabsatz, bis ich die Geräusche hinter mir als Panikrufe der Wirtin erkannt hatte. Schwerfällig drehte ich mich um und drohte dabei, eine Blumenvase mit dem Rucksack umzufegen. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen. Ihr Gesicht spiegelte eine eigentümliche Mischung von Gefühlen wider, die ich später in Japan noch öfter sehen würde. Die Mundwinkel irgendwie zu einem Lächeln hochgezogen, zeigte die Mitte des Gesichts zugleich Entsetzen vor dem grobschlächtigen Ausländer, während ihr Blick ein ungläubiges Erstaunen ausdrückte. Sie machte nun kleine Fiepslaute und zeigte abwechselnd auf meine schmierig-staubigen Wanderschuhe und ein Schuhregal am Fuße der Treppe.
    »Oh«, sagte ich. »Oh-Oh-Oh.« Ich versuchte, die Stufen beim Hinuntergehen so wenig zu berühren wie möglich, und stolperte dabei fast über meine Zehenspitzen.

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