Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Menge hätte ihn vermutlich totgetrampelt, wenn er nicht einen Bekannten dabeigehabt hätte. Er musste ein Freund oder Bekannter sein, denn außerhalb ihrer Gruppe verhalten sich Japaner meistens nicht hilfsbereit. Der Helfer schob den Zitternden an der nächsten Station aus dem Wagen und in eine Ecke neben der Treppe, wo er sich zitternd hinkauerte. Ich musste dort auch aussteigen. Um die Szene noch beobachten zu können, zog ich gemächlich einen Tee aus dem nächsten Automaten. »Es ist alles in Ordnung«, beteuerte der Kauernde gegen allen Anschein von unten herauf. Japaner sind konditioniert, immer erst mal zu sagen, es sei alles in Ordnung. »Ich habe eine Angststörung«, gab er dann doch noch zu.
Außer mir schien sich keiner für die Szene zu interessieren. Ich habe gesehen, wie Leute sich ans Herz griffen und zusammenklappten, während die Menschen daneben einfach weiterströmten und den Kranken an den Rand drängten. Es waren stets Leute in Uniformen, etwa U-Bahn-Angestellte, die etwas unternahmen. Vielleicht spielt die christliche Tradition in Europa wirklich eine Rolle. Jedenfalls habe ich als Außenseiter schon öfter Leute gefragt, ob ich ihnen helfen konnte, während die Japaner alle einfach weitergingen. In der Hälfte der Fälle machte ich mich jedoch zum Deppen.
»Was ist los? Brauchen Sie einen Arzt«, fragte ich eine junge Frau im Chanel-Kleidchen, die spätabends am Bahnhof Shinjuku auf der Treppe zusammensank.
Sie schielte einige Sekunden unstet zu mir herauf.
»Alles in Ordnung«, lallte sie. »Ich bin bloß besoffen.«
Das alles zusammengenommen bin ich mir manchmal nicht so sicher, ob ich Japan wirklich mag. Umso mehr Sorge machten mir die Anzeichen der eigenen Japanisierung. Den größten Schrecken jagte mir die Veränderung im Laufstil ein. Wenn Japaner auf eine Fußgängerampel zuhasten, die gerade auf Rot zu schalten droht, halten sie ihre Arme eher gerade an den Seiten statt sie abgewinkelt schwingen zu lassen. Das führt zu einer etwas unpraktischen Bewegungsweise.
Ich war also entsetzt, als ich mich plötzlich bei diesem Laufstil beobachtete. Fest nahm ich mir vor, künftig wieder auf eine aufrechtere, westliche Haltung beim Rennen zu achten.
Ich ertappe mich in letzter Zeit auch dabei, dass ich fast jeden Satz mit einer Entschuldigung einleitete, auch Antworten auf ganz normale Fragen. Schließlich könnte ich in Japan immer irgendwas falsch gemacht haben. Als ich den Stapel Mülltüten im Hinterhof meines Mietshauses schwelend und rauchend fand, lief ich nach vorne zum Hausmeister. »Entschuldigen Sie«, rief ich, »verzeihen Sie bitte!« - Erst als er sich seinerseits verbeugt hatte, rief ich aufgeregt: »Es brennt!«
Der Hausmeister sprang auf und löschte mit seinem Wasserschlauch. In einer der Mülltüten fand sich der Inhalt eines Aschenbechers. »Ich rauche nicht«, beteuerte ich überflüssigerweise. Tomiyama-san guckte mit zusammengekniffenen
Augen kurz auf den restlichen Müll. »Das hier gehört zu Nummer 603«, erklärte er dann. In Deutschland hätte ich ihm geraten, im Fernsehen aufzutreten. »Wetten, dass ich dreißig Mietparteien an ihrem Müll erkenne?«
Sich zu entschuldigen ist in Japan immer eine gute Strategie und hat nur Vorteile. Im Westen liegt das anders. Wer sich nach einem Verkehrsunfall entschuldigt, gesteht praktisch seine Schuld ein. Also wird der Schuldige das Unfallopfer erst einmal anraunzen: »Konnten Sie nicht aufpassen, Sie Trottel?« Das ist in Deutschland die Strategie mit dem größten Nutzen für den Autofahrer. In der japanischen Gesellschaft bringt dagegen die Entschuldigung den größeren Vorteil. Also entschuldige ich mich, wo immer es geht. Ich nahm mir neulich vor, es nicht zu übertreiben - schließlich habe ich in den Augen der Einheimischen ein grober, roher Ausländer zu sein.
Auch meine Koffer schrumpfen zusehends auf japanisches Format. Von Anfang an war mir aufgefallen, dass Japaner kaum Gepäck schleppen. Es sind immer nur westliche Touristen, die mit gewaltigen Koffern den Weg in Zügen und U-Bahnen blockieren. Doch ich habe das Geheimnis gelüftet: Japaner nehmen den Gepäckversand in Anspruch. Es gibt ein halbes Dutzend konkurrierender Firmen, die einen Koffer heute abholen und morgen früh im Hotel oder bei der Schwiegermutter über die Schwelle reichen. Das kostet etwa zehn Euro für einen Koffer. Wer ohnehin 250 Euro für die einfache Fahrt im Zug zahlt, für den fühlt sich das wie ein normaler Teil der
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