Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Reisekosten an.
Doch meine Japanisierung dringt immer weiter vor und kriecht in immer feinere Ritzen. Ich führe Selbstgespräche
auf Japanisch. Am Telefon verbeuge ich mich immer öfter. Wenn ich mich erkälte, trage ich eine Atemmaske. Ich reinige meine Ohren mit einem Schabelöffelchen!
Ein Wissenschaftler hat mich zudem davon überzeugt, dass auch meine Gedärme längst japanisiert seien. Von den Bazillen her sei ich Nipponese.
Der Biologe Rowan Hooper arbeitet in Japan und behauptet, dass der Wohnort uns tiefgreifend beeinflusse, wegen der Bakterien. In allen Weltgegenden essen die Leute vergorene Sachen mit lebenden Keimen, wie etwa Joghurt. Im Nattô sind die Sojabohnen von Fäulnisbakterien aus Reisstroh vergoren. Solche Kleinstlebewesen besiedeln nun nach und nach das Innenleben des Japanbewohners.
Forscher haben die Stoffwechselprodukte von Briten, Amerikanern, Chinesen und Japanern verglichen. Was unten rauskam, hing fast nur davon ab, welche Mikroben dieses Essen im Darm zerlegt hatten. Schließlich leben in uns zehnmal mehr Bakterien, als wir Körperzellen haben. Die chemische Zusammensetzung des Stuhls unterschied sich erheblich - und damit auch das, was unsere Körper an Substanzen aus dem Darm aufgenommen hatten. Briten und Amerikaner stoffwechseln fast gleich. Chinesen und Japaner unterscheiden sich dagegen drastisch von den Westlern, aber auch untereinander. Die Unterschiede zwischen den Nachbarländern in Ostasien wundern mich nicht. Chinesen essen völlig andere Sachen als Japaner - mehr Wok-Gebratenes, Dampfbrötchen, Teigtäschchen, Scharfes, Knuspriges. Nippon bevorzugt milde Gerichte wie Misosuppe oder Reisschüsseln mit gesottenem Fleisch obendrauf. Genetische Japaner oder Chinesen,
die länger in den USA leben, lassen sich wiederum nicht von Amerikanern unterscheiden. Europäer essen Joghurt und können daher Milch besser verdauen. Für viele Chinesen riechen butterige Gerichte dagegen ekelhaft.
Die Därme von uns Weißen in Japan werden nach einer gewissen Zeit also japanisch besiedelt. Wir werden zu mikrobiellen Japanern, mit Ausnahme der Mitarbeiter westlicher Firmen, die sich auf das Land nicht einlassen, morgens ein Sandwich essen, mittags ins Steakhaus gehen und abends eine Pizza bestellen. Diese Leute wohnen meistens auch in typischen Vierteln, wo es besonders viele Bäckereien und Fleischereien gibt.
Umgekehrt bedeuten die Erkenntnisse der Biologen, dass die Japaner im 21. Jahrhundert weiter verwestlichen. Jeder Supermarkt bietet Joghurt an. In japanischen Därmen wimmelt es bereits zu Abermilliarden von westlichen Keimen.
Dementsprechend haben schon nicht mehr die Japaner den gesündesten Stoffwechsel, sondern die Bewohner einer Region in Südchina. Ich wette, dass die Leute dort einfach noch keine Steaks, Weißbrot-Sandwiches und fettige Zuckerkringel bekommen.
An jeder Ecke locken in Tokio Leuchtreklamen von italienischen Restaurants, Wiener Cafés und französischen Bäckereien. Doughnut- und Burgerketten durchziehen das Land. Die Lebenserwartung sinkt in Japan seit einigen Jahren trotz allen medizinischen Fortschritts.
Ganz klar folgt also: Die japanische Essenz ist in Gefahr. Japaner sehen bekanntlich alles mit allem verbunden - da hängt auch das Essen mit dem Denken zusammen. Nippons mystische Nattô-Gemeinschaft, die sich schweigend versteht
und die Gruppe vor das eigene Wohl stellt - bedroht vom Ansturm der Milchsäurebakterien!
Von Tokio aus machte ich zwar etliche Dienstreisen, hatte aber fast völlig aufgehört, einfach im Lande herumzufahren. Kenji und die anderen wollten immer nur Tagesausflüge in Badeorte machen, die ihre kostbaren zehn Urlaubstage schonten. Spontan ging ich eines Nachmittags in das Reisebüro des Kaufhauses Tobu in Ikebukuro. Vier identisch gekleidete Damen saßen mit weißen Blusen und hellblauen Schürzen an Schreibtischen in einem schlauchartigen Raum. Zwischen den Computermonitoren stapelten sich Computerausdrucke, Broschüren und anderes Papier, wie in Japan üblich.
»Ich würde gerne eine Reise in einen Badeort buchen, weiß aber noch nicht, wohin.« Wie alle japanischen Reisebürofrauen begann auch die Dame, die mir nun gegenüber saß, hektisch in Katalogen zu blättern. Sie zeigte mir allerlei Möglichkeiten und fragte irgendwann: »Wie viele Personen sind Sie denn?«
»Ach, ich wollte alleine fahren.«
Sie erstarrte. Ich bemerkte einen Seitenblick von dem Mädchen am nächsten Monitor, das vorher noch konzentriert getippt
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