Tokio
des Verbrechens und das, womit die Krankenschwester die Steinlaterne dekoriert hatte. Es war das Bild des Abgesandten der Wainwright-Familie, der, gerade aus Kalifornien eingetroffen und die Reisetasche noch immer in der Hand, an der Tür geklopft hatte, und das, was er dann sah als niemand antwortete und er beschloss, die wenigen Meter die Gasse hinunterzugehen, wo eine rostige Gartenpforte offen stand.
Ich hatte das Haus erst eine halbe Stunde zuvor durch die Pforte verlassen, meine Tasche aus der Gasse geholt und war zum öffentlichen Bad auf der anderen Seite der Wase-da Street gegangen. Als der Wainwright-Mann zu begreifen begann, was sich da um die Steinlaterne schlängelte, auf die Knie sank und sich übergab, hockte ich nur hundert Meter entfernt auf einem kleinen grünen Gummihocker vor den kniehohen Duschen und zitterte wie Espenlaub. Zehn Minuten später, als er auf die Straße hinaustaumelte und ein Taxi anhielt, saß ich mit nassen Haaren in einem anderen Taxi auf dem Weg nach Hongo.
Ich starrte aus dem Taxifenster, und ein überwältigendes Gefühl von Einsamkeit überkam mich. Ich dachte an das, was unter der Stadt lag, an Erdbeben und die Toten aus dem Krieg. Das höchste und meistbesuchte Bauwerk Tokios, das SunshineGebäude, stand an der Stelle, wo Japans Premierminister und alle Kriegsverbrecher hingerichtet worden waren. Es erschien mir so seltsam, dass niemand wusste, was mir gerade passiert war. Niemand hatte mich gefragt: Wo bist du die ganze Nacht gewesen? Was hast du da in deiner Umhängetasche? Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?
Ich erreichte die Todai-Universität kurz nach neun. Das Schneetreiben hatte zugenommen, und das Akamon-Tov, die riesige, rot lackierte Eingangspforte der Todai-Universität, war nur noch als verschwommener roter Fleck im Weiß
auszumachen. Ein Wachmann in einem schwarzen Regenumhang winkte mich durch das Tor. Das Taxi kroch die Auffahrt entlang, bis ein einzelnes Licht auftauchte, dann weitere und schließlich das Institut für Sozialwissenschaft hell erleuchtet wie ein Märchenschloss vor uns lag.
Ich bat den Fahrer anzuhalten. Dann schlug ich meinen Jackenkragen hoch, stieg aus und starrte eine Weile am Gebäude empor. Es war vier Monate her, dass ich es zum ersten Mal betreten hatte. Vier Monate, und ich wusste jetzt so viel mehr. Ich wusste alles - mein Wissen umfasste die ganze Welt. Ganz langsam wurde ich mir einer dunklen Gestalt bewusst, die nicht weit von mir entfernt stand, klein wie ein Kind, unwirklich wie ein Geist: Shi Chongming. Es war, als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen.
»Shi Chongming«, flüsterte ich. Er erkannte mich und lächelte. Dann kam er auf mich zu.
»Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er.
»Woher wussten Sie, dass ich Sie besuchen würde?«
Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Keine Ahnung. Kommen Sie, wärmen Sie sich auf. Es ist nicht gut, zu lange in der Kälte zu stehen.«
Ich folgte ihm die Stufen hinauf. Drinnen war es sehr warm. Shi Chongming schloss die Tür seines Büros auf, schaltete einen elektrischen Heizofen ein und brühte Tee auf. »Ihre Augen«, sagte er, als ich meine Umhängetasche abnahm und mich in der Seiza-Haltung auf dem Boden niederließ. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Ich ... ich lebe.« Ich hielt mein Gesicht in den süßlichen Dampf. Der Popcornduft von Reistee. Er roch nach Japan. Ich saß eine Weile schweigend da, bevor ich sagte: »Ich habe es herausgefunden.«
»Bitte - sagen Sie das noch einmal.«
»Ich habe es herausgefunden. Ich weiß Bescheid.«
Er nahm seine Brille ab und setzte sich an den Schreibtisch.
»Ja«, sagte er müde. »Ja, das dachte ich mir schon.«
»Sie hatten Recht. Alles, was Sie mir erzählt haben, stimmt. Sie müssen es die ganze Zeit über gewusst haben.
Ich jedoch nicht. Es ist nicht das, was ich erwartet habe. Ganz und gar nicht.« »Nein?«
»Nein, es ist etwas, das Fuyuki schon seit langer Zeit besitzt. Vielleicht schon seit Jahren.« Meine Stimme wurde ganz leise.
»Es ist ein Baby. Ein mumifiziertes Baby.«
Shi Chongming schwieg. Er wandte den Kopf ab, und einen
Moment lang bewegte sich sein Mund, als würde er ein Mantra aufsagen. Schließlich hustete er und legte seine Brille in ein abgegriffenes blaues Etui. »Ja«, sagte er. »Ja, ich weiß. Es ist meine Tochter.«
61
Nanking, 21. Dezember 1937
Es ist so unerträglich, sich daran zu erinnern: an jenen Moment vollkommenen Friedens, vollkommener Hoffnung. Wie
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