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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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der anderen den Karren zog. Nach einer Weile war das Geräusch des Motorrads verklungen. Aber ich wollte nicht anhalten. Auf unserem Weg kamen wir an ausgebrannten und geplünderten Villen vorbei, deren wunderschöne, von Kamelien zugewucher-ten Veranden nunmehr zerstört waren. Wir fragten uns, ob auch die Toten dort draußen in der Dunkelheit lagen.
    Als sich die ersten roten Strahlen der Morgendämmerung über den Bergkamm stahlen, rief Shujin meinen Namen. Ich drehte mich um und sah, dass sie an einem Baum lehnte, die Hände auf ihrem Bauch. »Bitte«, flüsterte sie, »bitte. Ich kann nicht mehr.«
    Ich rutschte den Hang zu ihr hinunter und fasste sie gerade rechtzeitig am Ellbogen, bevor ihre Knie nachgaben und sie in den Schnee sank. »Shujin?«, sagte ich. »Was ist denn? Fängt es an?«
    Sie schloss die Augen. »Ich weiß es nicht.«
    »Bitte«, ich schüttelte ihren Arm, »es ist jetzt nicht die Zeit, schüchtern zu sein. Ist es so weit?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie barsch und riss die Augen auf. »Du bist nicht der Einzige, mein Gemahl, der nie zuvor ein Kind bekommen hat.« Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Sie drückte mit den Armen den Schnee um sich herum platt, schuf ein seltsames kleines Nest, in dem sie sich zusammenkrümmte. »Ich möchte mich hinlegen«, sagte sie. »Bitte, ich muss mich hinlegen.«
    Wir befanden uns auf einem kleinen, ebenen Geländestück, verborgen vor den niedrigeren Hängen durch dicht stehende Walnuss-und Kastanienbäume sowie spitzblättrige Eichen, in einer Höhe, von der aus die Feuer in Nanking kaum mehr als ein roter Schimmer am Horizont waren. Ich ging ein paar Meter zurück und lauschte. Kein Laut drang an mein Ohr. Ich stieg ein Stück höher hinauf und beschrieb einen großen Kreis, wobei ich alle paar Schritte stehen blieb und mich umsah. Das fahle Licht, das durch die Bäume drang, fiel auf einen Gegenstand knapp zwanzig Meter tiefer am Hang, halb versteckt unter Laub und Schnee. Es war die riesige Steinstatue einer Schildkröte, das erhabene Symbol für männliche Langlebigkeit.
    Mein Herz schlug höher. Wir mussten ganz in der Nähe des Linggu-Tempels sein! Selbst den Japanern ist ein Schrein heilig - auf unsere Gebetsstätten war nicht eine Bombe gefallen. Wenn dies der Ort sein sollte, an dem unser Kind das Licht der Welt erblickt, dann waren uns die Götter hold.
    »Komm hinter diese Bäume. Ich werde dir einen Unterschlupf bauen.« Ich kippte den Handkarren auf die Seite, holte alle Decken heraus und breitete sie hinter dem Karren aus. Dann geleitete ich Shujin zu dem behelfsmäßigen Bett, half ihr beim Hinlegen und gab ihr abgebrochene Eiszapfen von den Bäumen, damit sie ihren Durst stillen konnte. Anschließend schob ich von hinten Schnee an den Karren, um ihn vor Blicken zu schützen. Nachdem Shujin es sich bequem gemacht hatte, hockte ich eine Weile neben ihr, kaute nervös an meinen Fingernägeln und starrte zwischen den Bäumen hindurch auf den Himmel, der mit jeder Sekunde heller wurde.
    »Shujin?«, flüsterte ich nach einer Weile. »Ist alles in Ordnung?«
    Sie gab keine Antwort. Ich trat näher an sie heran und lauschte. Sie atmete schnell und flach. Ich nahm meine Mütze ab und verfluchte mich dafür, dass ich so wenig über den Geburtsvorgang wusste. Niemand hatte es mir erklärt, als ich noch ein Kind war. Darum kümmerten sich die Tanten, die strengen Schwestern meiner Mutter. Ich war unwissend. Der gebildete moderne Linguist, der nichts über Geburten wusste. Ich legte meine Hand auf den Karren und flüsterte: »Bitte, sag es mir. Denkst du, dass unser Baby ...« Ich verstummte. Die Worte waren unwillkürlich über meine Lippen gekommen. Unser Baby, hatte ich gesagt. Unser Baby.
    Shujin war entsetzt. Sie stieß einen langen, schrillen Schrei aus. »Nein!«, schluchzte sie. »Nein - du hast es ausgesprochen. Du hast es ausgesprochen!« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Geh weg!«, rief sie verzweifelt. »Geh weg von mir. Steh auf und geh weg. Verschwinde.«
    »Aber ich ...«
    »Nein! Welches Unglück du über unsere Mondseele gebracht hast!« »Shujin, ich wollte nicht ...« »Gehweg!« »Bitte!
    Sei doch leise.«
    Doch sie hörte nicht auf mich. »Geh weg, du mit deinen gefährlichen Worten! Geh weg mit deinen Verwünschungen. «
    »Aber ...«
    »Sofort!«
    Ich grub meine Fingernägel in die Handflächen und biss mir auf die Lippe. Was für ein Narr ich gewesen war. Wie

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