Tokio
ge-dankenlos, sie so zornig zu machen! Und das in einem solchen Moment! Dann seufzte ich. »Schon gut, schon gut.« Ich entfernte mich einige Meter. »Ich werde hier stehen bleiben, genau hier, solltest du mich brauchen.« Ich drehte mich mit dem Rücken zu ihr.
»Nein! Weiter weg! Geh weiter weg. Ich will dich nicht sehen.« »Wie du willst!«
Zögernd ging ich ein paar Schritte, bis mich die Steigung des Hangs vor ihren Blicken verbarg. Ich hockte mich bedrückt auf den Boden und schlug mir mit der Faust an die Stirn. Der Wald war so still. Ich schaute mich um. Sollte ich versuchen, Hilfe zu holen? Vielleicht war ja jemand in einem der Häuser, der uns Unterschlupf gewähren konnte. Doch in den Berichten im Radio hieß es, dass all diese Häuser geplündert worden seien. Die einzigen Menschen, denen ich vielleicht begegnen könnte, wären betrunkene japanische Offiziere, die sich in den verlassenen Villen eingenistet hatten und sich dort an clen Weinvorräten gütlich taten.
Ich stand auf und wagte mich ein Stück aus dem Schutz der Bäume, um mir einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen. Ich schob einen Ast beiseite, machte einen Schritt vorwärts - und mir stockte der Atem. Einen Moment lang war Shujin vergessen. Wir befanden uns so hoch oben! Weiter unten auf den Hängen, umgeben von Bäumen, zeichnete sich Sun Yat-sens Mausoleum leuchtend blau gegen das Weiß des Schnees ab. Würde ich mich nach Osten wenden, könnte ich zwischen den Bergen einen Blick auf die ausgedörrten gelben Ebenen des Flussdeltas erhaschen, die sich zum dunstigen Horizont hin erstreckten. Unter mir glomm der Talkessel, in dem die Stadt lag wie ein Vulkan. Eine schwarze Rauchwolke hing über dem Jangtse, und ich erkannte mit Schrecken, dass alles so war, wie ich vermutet hatte: Auf Höhe von Meitan war der Fluss ein einziges Bild der Zerstörung; ich sah zerbombte Boote und halb im Schlamm versunkene Sampans. Der ehrwürdige Liu hatte Recht gehabt, als er sagte, wir sollten nach Osten gehen.
Während ich dort stand, die Sonne im Gesicht und ganz Jiangsu unter mir ausgebreitet, stieg unvermittelt Trotz in mir auf, eine Entschlossenheit, dass China als das China, in dem ich aufgewachsen war, überleben musste. Dass die lächerlichen, allein dem Aberglauben entsprungenen Feste des Weißen Taus und des Getreideregens weiterleben, dass Enten auch in Zukunft in der Abenddämmerung über die Felder getrieben, dass jeden Sommer die Lotusblüten erblühen würden. Dass das chinesische Volk weiterbestehen und das Herz meines Kindes auf ewig chinesisch sein würde. Ich reckte voller Stolz und auch Zorn meine Faust gen Himmel und bot allen bösen Geistern die Stirn, die es wagen sollten, mir meinen Sohn zu rauben. Mein Sohn, der wie ein Tiger kämpfen würde, um sein Land zu beschützen. Mein Sohn, der stärker sein würde, als ich es je war. »Wagt es nur!«, murmelte ich. »Ja, wagt es nur!«
60
Man weiß nie, was in die Schlagzeilen kommt. Der größte
Teil der Beweise am Tatort in Takadanobaba deutete auf einen einzigen möglichen Täter hin: Ogawa, die so genannte Bestie von Saitama. Und doch wurde dies aus irgendeinem Grund (vielleicht hatten die über diesen Fall berichtenden Journalisten Angst) von den Zeitungen nicht publik gemacht. Sie wurde zum Verhör aufs Revier geholt, doch dann sehr rasch wieder entlassen und lebt bis zum heutigen Tag auf freiem Fuß
irgendwo in Tokio, wo man manchmal hinter den getönten Scheiben einer Limousine oder beim Betreten eines Gebäudes in der Nacht einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen kann. Man darf die Verbindung zwischen Yakuza und Polizei nicht unterschätzen.
Währenddessen beherrschte der Mord an Jason Wainwright-sein voller Name, wie ich verspätet herausfand - monatelang die Titelseiten. Der Grund dafür war, dass er ein gebildeter, gut aussehener Amerikaner war. Sein Heimatstaat Massachusetts verfiel in Hysterie. Es wurden die Korruption und der übermächtige Einfluss der Mafia angeprangert, doch das alles führte zu nichts - schon gar nicht zu Fuyuki und der Bestie von Saitama. In teure Anzüge gekleidete Anwälte der Familie jetteten in Thai-Air-Jumbos nach Japan; doch egal, wie viel Geld sie anboten, niemand redete über Jasons Leben in den Monaten vor dem Mord. Ebenso wenig wurde je die geheimnisvolle Frau ausfindig gemacht, die am Tag vor seinem Tod seine Mutter angerufen hatte.
Doch was wahrscheinlich mehr als alles andere die Phantasie der Menschen anregte, war der Ort
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