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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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still alles war, in jenem Augenblick, bevor Shujins Schreie durch den Wald hallten.
    Ich sah mich verwirrt um, als ob jemand beiläufig meinen Namen gerufen hätte, ließ meinen Blick verständnislos umherschweifen, so als wüsste ich nicht, was ich gehört hatte. Dann schrie sie abermals, ein kurzes Aufheulen, wie ein geprügelter Hund.
    »Shujin?« Ich drehte mich wie in Trance um, schob die Äste beiseite und ging zwischen den Bäumen zurück. Vielleicht war der Moment der Geburt näher, als ich geglaubt hatte. »Shujin?«
    Keine Antwort. Ich beschleunigte meine Schritte, begann zu rennen. »Shujin?« Stille. »Shujin?« Meine Stimme wurde lauter. »Shujin. Antworte mir.«
    Es kam keine Antwort, und Panik ergriff mich. Ich hetzte den Hang hinauf. »Shujin!« Meine Füße rutschten weg, Tannen ließen ihre weiche Last aus Schnee auf mich fallen. »Shujin!«
    Am Fuß des Baums war der Handkarren aufgerichtet worden, und unsere Decken und Habseligkeiten lagen verstreut daneben. Verwischte Spuren führten tiefer in den Wald. Ich folgte ihnen, duckte mich, als ein kahler Ast gegen mein Gesicht peitschte. Die Spur zog sich mehrere Meter weiter, dann veränderte sie sich. Ich kam schlitternd zum Stehen, keuchend, mit pochendem Herzen. Ein Areal aus aufgewühltem Schnee breitete sich um mich herum aus, so als ob Shujin zu Boden gefallen wäre oder es einen Kampf gegeben hätte. Etwas lag halb vergraben zu meinen Füßen. Ich griff danach und drehte es um: ein schmales Stück Maßband, ausgefranst und eingerissen. Schreckliche Angst bemächtigte sich meiner. An dem Band hingen zwei Erkennungsmarken der kaiserlichen japanischen Armee.
    » Shujin!« Ich sprang auf. » SHU-JIN?«
    Ich wartete, doch niemand antwortete mir. »SHUJIN!« Das
    Wort gellte durch den Wald. Ich wirbelte herum, suchte nach einem Hinweis. Sie hatten sich irgendwo da draußen versteckt, hielten Shujin fest, kauerten im Schnee und beobachteten mich. Dicht hinter mir hörte ich jemanden atmen.
    Ich fuhr geduckt herum, die Hände vorgestreckt, sprungbereit. Aber da waren nur Bäume. Doch ich spürte, dass jemand in der Nähe war. Sehr nah. Ich hörte ein Rascheln keine drei Meter entfernt, wo der Boden sich in eine Mulde absenkte, dann das Knacken eines Zweigs und ein plötzliches mechanisches Geräusch - und ein japanischer Soldat trat hinter einem Baum hervor.
    Er war nicht für den Kampf gekleidet - sein mit einem Netz bespannter Stahlhelm hing neben den Munitionsbeuteln an seinem Gürtel, und er trug noch immer seine Rangabzeichen. Statt eines Gewehrs hielt er eine Filmkamera im Anschlag, das Objektiv geradewegs auf mein Gesicht gerichtet. Die Kamera surrte, die Kurbel sauste im Kreis herum. Der Kameramann von Shanghai. Ich erkannte ihn sofort. Der Mann, der die Untaten der Soldaten in Shanghai gefilmt hatte. Er filmte mich. Wir standen uns einen Moment lang schweigend gegenüber.
    Ich starrte ihn an, während er mich filmte. Dann stürzte ich mich mit einem Satz auf ihn. »Wo ist sie?« Er wich einen Schritt zurück, und in jenem Moment hörte ich ein Stück weiter den Pfad entlang Shujins Stimme, so zart und zerbrechlich wie Porzellan.
    »Chongming!«
    Selbst in tausend Jahren werde ich mich noch an diese Stimme erinnern. Ich werde davon träumen, ich werde sie in der kalten weißen Leere meiner zukünftigen Träume hören.
    »Chongming!«
    Ich stolperte von dem Kameramann weg durch den knietiefen Schnee, folgte blind ihrer Stimme. »SHUJIN!«
    Mit Tränen in den Augen kämpfte ich mich weiter, gefasst auf die Kugel, die jeden Moment pfeifend herangesaust kommen konnte. Doch der Tod wäre eine zu einfache Lösung gewesen, verglichen mit dem, was als Nächstes geschah. Ich hörte das unverkennbare Rasseln einer Bajonettschlaufe. Und dann sah ich sie. Sie standen dreißig Meter unterhalb von mir auf dem Trampelpfad, zwei Männer in senffarbenen Mänteln, und starrten auf etwas am Boden. Ein Motorrad lehnte an einer Schwarztanne. Einer der Männer drehte sich um und schaute nervös in meine Richtung. Er hatte eine Kapuze über die Feldmütze gezogen; auch er war nicht für den Kampf gekleidet, und dennoch hatte er sein Bajonett auf das Gewehr aufgepflanzt. Auf seinem Gesicht prangte eine blutige Schramme, so als ob Shujin ihn während des Kampfes gekratzt hätte. Als ich ihn musterte, senkte er voller Scham den Blick. Es war ein junger Bursche, fast noch ein Knabe, aufgeputscht von Amphetaminen. Er wollte nicht hier sein.
    Doch da gab es noch den

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