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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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fahles Licht durch die Risse im Türbrett. Ich hörte eine tiefe Männerstimme und Schritte, so als würde jemand die Küche inspizieren.
    Überleg nicht lange, sonst bist du tot. Ich holte tief Luft, presste meine Hände an die Wand und tauchte mit dem Gesicht voran in den pechschwarzen Tunnel.
    Das eiskalte Wasser lief in meine Ohren, meine Nase. Ich streckte die Hände aus und versuchte zu stehen, rempelte gegen das Mauerwerk, schürfte meinen Ellbogen auf, während ich durch den trüben Tümpel stolperte. Wo entlang? Wo endete der Tunnel? Wo? Er schien endlos zu sein. Gerade als ich dachte, dass mir die Luft ausgehen würde und alles vorbei wäre, fanden meine tastenden Finger keinen Halt mehr und durchstießen die Wasseroberfläche. Ich griff ins Leere und tauchte würgend und prustend auf, den Kopf an die Decke gedrückt. Ich konnte nicht aufrecht stehen, doch wenn ich meine Knie ein wenig beugte und den Kopf schräg hielt, war gerade genug Platz zum Atmen - eine vielleicht zwei Hand breit große Lücke zwischen Wasser und Mauerwerk.
    Atme! Atme!
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort verharrte - mir war, als befände ich mich in einem Vakuum ohne Gefühl für Raum und Zeit -, als ich plötzlich einen rosa Lichtschimmer im Wasser zu meiner Linken bemerkte. Es war die Krankenschwester, die mit einer Taschenlampe auf das Wasser leuchtete. Ich beobachtete mich selbst von einer anderen Bewusstseinsebene aus, sah mein Gesicht auf den Algen treiben, die Lippen blau, die Lider halb geschlossen. Selbst als das Licht wieder verschwand und die Schritte über mir verhallten, blieb ich vollkommen reglos stehen.
    58
    Im Morgengrauen, nachdem lange Zeit kein Laut mehr im
    Haus zu hören gewesen war, erreichte ich das offene Fenster. Mein Körper war so taub von der Kälte, dass es mich Stunden gekostet hatte, hierher zurückzukriechen. Ich spähte vorsichtig hinaus, überzeugt davon, dass sich die Krankenschwester gleich auf mich stürzen würde. Doch der Garten lag völlig ruhig da - eine gespenstische Welt aus Schnee und Eis, die glitzerte, als hätte jemand Diamanten verstreut.
    Aus dem Fenster zu klettern strengte mich an. Ich fiel erschöpft in den Schnee und war nicht im Stande aufzustehen. Also blieb ich sitzen, die Plastiktüte zu meinen Füßen, und starrte blind auf die Winterlandschaft.
    Was war passiert? Was war nur passiert? Jedes einzelne Fenster in der Galerie war zerschlagen, die Äste der Bäume waren abgebrochen, ein Fensterladen baumelte an seinen kaputten Angeln und knarrte gelegentlich.
    Die Tropfen in den Bäumen sind so wunderschön -meine Gedanken bewegten sich träge -, so wunderschön. Mein Blick wanderte zu dem Teil des Gartens, der Shi Chong-ming so fasziniert hatte - und langsam begann ich zu begreifen. Gefrorene Tropfen aus Blut und Gewebe waren über die Äste verteilt, so als wäre dort etwas explodiert. Drapiert über die Steinlaterne, wie eine ausgeblichene Papiergirlande, war ... Eine verschwommene Erinnerung an ein Zeitungsfoto - ein namenloses japanisches Opfer, seine Eingeweide ausgebreitet unter dem Auto.
    Jason ...
    Ich starrte eine Ewigkeit, wie mir schien, auf das, was von ihm übrig war, erstaunt über die Muster - Litzen, Falten und Spiralen -, die wie Weihnachtsdekorationen anmuteten. Wie konnte das so hübsch aussehen? Wind kam auf, ließ die Schneeflocken wirbeln und wehte das Blut von den Ästen. Er pfiff durch die zerbrochenen Scheiben der Galerie und brauste den Korridor entlang. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich selbst von oben, stellte mir vor, ich würde auf den Garten hinabblicken. Und dann, als ich weiter hinaufstieg, sah ich das Dach des Hauses, die roten Ziegel glänzend vom schmelzenden Schnee, sah die kleine Gasse und eine einzelne alte Frau in Holzsandalen, ich sah das Plakat mit Mickey Rourke, dann ganz Takadanobaba, die »hoch gelegene Pferdeweide«, und Tokio, glitzernd und funkelnd neben der Bucht, und Japan, wie eine Libelle, die sich an Chinas Flanke klammerte. Das erhabene China. Höher und höher stieg ich auf, bis mir schwindlig wurde, ich meine Augen schloss und mich vom Wind davontreiben ließ.

    59
    Nanking, 21. Dezember 1937
    Ich weiß nicht, wie lange wir, getrieben von Angst, auf unserer verzweifelten Flucht durch den Wald stolperten. Den größten Teil des Wegs musste ich Shujin mitzerren, da sie schon bald erschöpft war und mich anbettelte, rasten zu dürfen. Doch ich war gnadenlos, schleifte sie mit einer Hand hinter mir her, während ich mit

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