Tokyo Love
dennoch fühlte ich mich schlapp. Morgens nach dem Aufstehen legte ich mich meistens noch mal hin, sobald Ama aus dem Haus war. Ich jobbte gelegentlich, hatte Sex mit Shiba-san und traf mich ab und zu mit Freunden, doch was ich auch tat, es laugte mich aus. Abends, wenn Ama heimkam, gingen wir anschließend raus, um noch einen Happen zu essen und was zu trinken. Zu Hause ging die Sauferei dann weiter. Ich fragte mich, ob aus mir bereits eine Alkoholikerin geworden war. Ama machte sich auch schon unentwegt Sorgen wegen meiner Lustlosigkeit. Er gab sich gezwungen gut gelaunt, um mich mitzureißen, oder quasselte mich voll wie ein Maschinengewehr. Wenn ich dann weiterhin in düsterer Stimmung verharrte, brach er plötzlich in Tränen aus. Pathetisch warf er mir vor, wie frustriert und bekümmert er sei, und fragte mich beleidigt, wieso ich ihm das antäte.
Wenn ich ihn so erlebte, regte sich in mir ein leiser Impuls, auf seine Gefühle einzugehen, doch jedesmal wurde eine solche Anwandlung von einer Woge an Selbstverachtung niedergeschmettert. Es gab keinen Lichtblick weit und breit. In meinem Kopf, in meinem Leben herrschte tiefe Finsternis. Auch für meine Zukunft sah ich schwarz. Ich hatte die Vision ganz klar vor Augen: Irgendwann würde ich in der Gosse enden. Und das Schlimme daran war, daß ich nicht mal mehr die Energie aufbrachte, diese Vorstellung mit einem Lachen zu verscheuchen. Bevor ich Ama kennenlernte, war ich jederzeit bereit gewesen, meinen Körper zu verschachern, wenn es denn nötig gewesen wäre, um mich am Leben zu halten. Doch jetzt brachte ich nichts weiter zustande, als bloß zu essen und zu schlafen. Inzwischen würde ich lieber verrecken, als mit einem dieser stinkenden alten Kerle ins Bett zu gehen. Was mochte wohl besser sein: sich zu prostituieren, um zu überleben, oder lieber zu sterben, wenn es soweit kommen sollte? Theoretisch war sicher die zweite Alternative zuträglicher für die Gesundheit, aber was nützte das dann noch? Einer Toten würde sowieso alles scheißegal sein. Demnach war also die erste Möglichkeit vorzuziehen, zumal sexuell aktive Frauen bekanntlich einen frischeren Teint haben sollen. Aber eigentlich kümmerte es mich ohnehin nicht, ob ich gesund lebte oder nicht.
Mein Zungenpiercing war nun bei 4g angelangt. Diesmal hatte es schweinisch geblutet. Ich brachte an dem Tag keinen Bissen herunter, füllte mich statt dessen nur mit Bier ab. Ama warnte mich zwar, daß ich beim Piercen zu forsch vorgehen würde, aber ich hatte es eben eilig, ich war zwar keine todgeweihte Krebspatientin, aber dennoch hatte ich das Gefühl, die Zeit läuft mir davon. Manchmal im Leben ist es wahrscheinlich notwendig, Dinge voranzutreiben.
»Sag mal, Lui, hast du schon mal den Gedanken gehabt, sterben zu wollen?« fragte mich Ama eines Abends aus heiterem Himmel, nachdem wir wie üblich essen gegangen waren und im Anschluß zu Hause noch ein paar Biere gekippt hatten.
»Ständig«, erwiderte ich leise.
Ama stierte geistesabwesend auf sein volles Bierglas und stieß dann einen Seufzer aus.
»Ich würde es nicht zulassen, daß jemand Hand an dich legt. Falls du Selbstmord begehen willst, dann laß es mich für dich tun. Ich könnte es nicht ertragen, wenn jemand anderes als ich über dein Leben verfügt.«
Amas Worte ließen mich an Shiba-san denken. Ich überlegte, wem von beiden ich mich anvertrauen würde, wenn die Sehnsucht zu sterben überhandnähme. Ich dachte an das Desire und beschloß, am nächsten Tag hinzugehen. Sobald ich den Entschluß gefaßt hatte, merkte ich, wie ein Fünkchen Lebenskraft in mir aufflackerte.
Nachdem Ama sich am nächsten Tag mittags auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, schminkte ich mich für meinen geplanten Besuch. Ich war gerade damit fertig und im Begriff, mich bei Shiba-san zu melden, als er selbst anrief, so als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Ja?«
»Ich bin’s. Können wir reden?«
»Klar. Ich wollte dich gerade anrufen, um bei dir vorbeizukommen. Was ist denn?«
»Na ja, es geht um Ama.«
»Äh?«
»Weißt du zufällig, ob er im Juli in irgendeine Sache verwickelt war?«
Mir schnürte sich die Brust zusammen. Seine Frage rief mir die Szene ins Bewußtsein, wie Ama auf den Typen eingedroschen hatte.
»Ich weiß von nichts. Wieso fragst du?«
»Die Bullen tauchten plötzlich bei mir auf und verlangten nach einer Liste der Kunden, die ich tätowiert habe. Sie wollten wissen, wer sich von denen ein Drachentattoo hat machen lassen. Ich
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