Tokyo Love
meinen Eingriffen gegen Gott, oder waren sie bloß Ausdruck meines Egos? Ich hatte nie etwas als mein Eigentum besessen, mich um nichts und niemanden gekümmert, noch irgend jemanden für irgend etwas verantwortlich gemacht. Und ich ahnte, daß auch die Tätowierung, die Schlangenzunge und meine Zukunft keine Bedeutung haben würden.
Vor vier Monaten hatte Shiba-san mein Tattoo entworfen. Nach nur vier Sitzungen war es vollendet. Er hatte mich am Ende jeder dieser Prozeduren gefickt. Völlig untypisch wischte er mir nach der letzten Sitzung das Sperma vom Bauch.
»Ich sollte das Tätowieren an den Nagel hängen«, murmelte er kaum hörbar und schaute dabei versonnen zur Decke. Es gab keinen Grund für mich, ihn abzulenken, also schwieg ich und zündete mir eine Zigarette an.
»Ich bin am Überlegen, ob ich nicht eine feste Beziehung eingehen sollte, so wie Ama.«
»Und was hat das damit zu tun, daß du nicht mehr tätowieren willst?«
»Vielleicht sollte ich einen Neuanfang machen. Jetzt, wo ich den superschärfsten Kirin aller Zeiten geschaffen habe, kann ich ohne Bedauern aufhören.« Er strich sich über den Kopf und seufzte. »Na ja, ist wahrscheinlich Quatsch! Scher dich nicht weiter darum. Ich fasle ständig davon, meinen Beruf zu wechseln.«
Shiba-san saß mit nacktem Oberkörper da, und der entblößte Kirin auf seinem Arm sah mich mit kühnem Blick an, wie ein Herrscher, der über sein Reich wachte.
Im Laufe der Monate hatten meine beiden Fabelwesen Schorf gebildet, und als sie ihn am Ende abwarfen, waren sie vollkommen mit mir verschmolzen. Nun waren sie mein Eigentum – so kamen sie mir vor. Doch ich hatte ständig neue Wünsche und wollte immer sofort alles in meinen Besitz bringen. Aber solch ein Besitz ist eigentlich eine trostlose Angelegenheit. Alles, was man erlangt, was man sein eigen nennt, gerinnt zur Selbstverständlichkeit. Die Begeisterung dafür, das Begehren, das vorher da war, erlischt sofort. Man will dies, man will das, und all der Krempel – Klamotten, Taschen und so weiter – verkommt sofort, nachdem man es erworben hat, zu einem bloßen Exemplar der Sammlung. Man trägt das Zeug ein paarmal, und schon hat es den Reiz des Neuen eingebüßt. Mit der Ehe ist es wohl nicht anders, auch hier geht es darum, den anderen zu besitzen. Und selbst wenn man nicht verheiratet ist, neigen doch die Typen im Laufe der Beziehung dazu, herrisch zu werden – gemäß dem Sprichwort »Einen Fisch an der Angel braucht man nicht zu füttern«. So läuft das doch. Und was, wenn dem Fisch das Futter ausgeht? Dann hat er lediglich die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder zu verrecken oder zu flüchten. Besitz ist eine heikle Angelegenheit, und trotzdem wollen wir Dinge und Menschen für uns haben. Wahrscheinlich trägt jeder von uns beide Komponenten in sich: einen Sado- und einen Maso-Anteil. Für mich jedenfalls werden Drache und Kirin, die jetzt auf meinem Rücken tanzen, für immer unzertrennlich zu mir gehören, ohne daß einer den anderen hintergeht. Sie werden mich nie betrügen, und ich werde sie niemals betrügen. Wenn ich ihre blicklosen Gesichter im Spiegel betrachte, fühle ich mich sicher, denn ich weiß, daß sie ohne Augen niemals fortfliegen können.
Das Loch in meiner Zunge, das vor dem Tätowieren erst bei 10g angelangt war, hatte ich inzwischen auf 6g vergrößert. Aber jedesmal beim Weiten tat es so weh, daß ich glaubte, mehr sei nicht drin. An jedem Tag nach dem Dehnen mit einem größeren Stift war meine Zunge völlig geschmackstaub. Der anhaltende Schmerz machte mich so gereizt, daß ich meinen ganzen Unmut an Ama ausließ. Es war immer dasselbe: Vor lauter Selbstsucht wurde ich gemein und ließ meinem Ärger freien Lauf. An solchen Tagen wünschte ich jedem den Tod. Meine Intelligenz und mein Wertesystem rutschten ab auf das Niveau von Affen.
Draußen war es kalt und grau. Die zweite Dezemberwoche war angebrochen, und man konnte die trockene Luft förmlich riechen, sobald man aus der Tür trat. Als Gelegenheitsarbeiterin, die mal hier und dort jobbte, hatte ich jegliches Gefühl für Wochentage verloren. Seit über einem Monat hatte ich mein Tattoo, und es schien alle Energien aus mir herausgezogen zu haben. Ich redete mir ein, daß es an der Kälte lag. Tag für Tag betete ich darum, die Zeit möge schneller vergehen, obwohl es keinen Unterschied machte, denn der nächste Tag brachte auch keine Lösung. Zumal es eigentlich nicht mal irgendwelche Probleme gab. Und
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