Tolle Maenner
ungutes Gefühl in der Magengrube. Das ist eine gefährliche körperliche Arbeit, sagte er sich, und bevor er in Schweiß ausbrach und das Armani-T-Shirt ruinierte, das er auf Tracies Rat hin gekauft hatte, stellte er sich unmittelbar hinter die Schöne. Unter Einsatz seiner gesamten
Willenskraft zwang er sich, sie nicht anzusehen, sondern wie jeder andere stieren Blicks auf das leere Förderband zu starren.
Er versuchte, langsam bis hundert zu zählen, geriet aber bei siebenundsechzig ins Stocken. Und wenn ihr Koffer jetzt kam? Er räusperte sich. »Kommt mir das nur so vor, oder wartet man tatsächlich länger aufs Gepäck, als der Flug von San Francisco nach Seattle dauert?«, fragte er laut. Na ja, das war zwar nicht die originellste Eröffnung, aber wenigstens hatte er nicht nach der Uhrzeit gefragt. Die Schöne dreht sich zu ihm um, sodass er sie nun im Profil sehen konnte. Ihre Nase war lang und ein klein wenig unregelmäßig geformt, was sie in seinen Augen nur noch niedlicher wirken ließ. Ihre Haut war porzellanweiß. Aus der kurzen Entfernung konnte Jon winzige Sommersprossen über ihren Wangenknochen und auf dem Rücken ihrer gebogenen Nase erkennen. Das alles hatte etwas sehr Delikates an sich. Nun schaute sie einen Augenblick lang in seine Richtung. Dann lächelte sie.
»Es kommt einem wirklich wie eine Ewigkeit vor«, pflichtete sie ihm bei.
Ihre Stimme war wie Wasser, das über Steine plätschert, wie aneinander klingende Champagnerflöten. Jon genehmigte sich einen weiteren kurzen Blick und riss sich dann von ihr los, wobei er daran dachte, nicht zu lächeln. Er verlagerte das Gewicht, zog den Bauch ein, streckte das Becken vor und verschränkte die Arme über der Brust. Dann aber wusste er nicht mehr, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. Die James-Dean-Pose war ja kein übler Anfang, aber die Schöne sah ihn nun mit einem erwartungsvollen – oder auch nur toleranten – Lächeln an. Die Warterei machte sie allmählich sichtlich nervös.
Aber was kam als Nächstes? Er konnte ihr anbieten, sie in die Stadt mitzunehmen. Wenn er doch nur ein Motorrad hätte. Er seufzte. Tracie hatte wie immer Recht gehabt. Na ja. Er zermarterte sich das Hirn. Was konnte er nur sagen?
In diesem Augenblick läutete eine Glocke, und das Förderband setzte sich in Bewegung. Ein etwa drei oder vier Jahre alter
Junge bewegte sich mit. Er war zuerst über den schmutzigen Fußboden gekrabbelt und dann auf das Band. Im ersten Augenblick war er offenbar hingerissen, doch als das Band ihn immer weiter von seiner Mutter wegtrug, war er nur noch mitgerissen. Er öffnete den Mund und stieß ein Angstgebrüll aus, das man einem so winzigen Mund nie zugetraut hätte.
»Das ist der Kleine aus dem Flugzeug«, sagte die Schöne. Kurz bevor der Junge an ihm vorbeirollte, schritt Jon zur Tat. Er beugte sich vor, hob den kleinen Jungen vom Band und stellte ihn seiner Mutter vor die Füße. Leider brachte seine Rettung den Kleinen nicht dazu, sein Geschrei einzustellen. Er brüllte sogar noch lauter, bis sein Gesicht ganz rot anlief. Die Schöne ging ebenso auf Abstand wie die anderen Umstehenden, Jon war ratlos. Er überlegte sich schon, ob er den Knirps nicht einfach wieder hochnehmen sollte, aber der Junge war total verdreckt. »Lass den Scheiß, Josh«, sagte die Mutter des Jungen, packte den armen Kerl an der linken Hand, riss ihn am Arm und zerrte ihn weg, ohne sich bei Jon zu bedanken.
Die Schöne und die anderen Passagiere kamen wie eine hereinschwappende Flutwelle zurück, und sie blickte zu ihm auf. Sie hatte graue Augen – Jons Lieblingsfarbe -, und obwohl sie ein winziges Bisschen zu tief lagen, um als absolut vollkommen zu gelten, waren sie doch außergewöhnlich schön. Aber Tracie hatte ihm verboten, einer Frau Komplimente wegen ihrer Augen zu machen, und so ließ er es bleiben.
»Sie hat sich nicht einmal bedankt«, sagte die Schöne, und auf ihrem hübschen Gesicht zeichnete sich eher Überraschung als Entrüstung ab.
»Nein, aber irgendwann wird sie mich sicher für ein Stipendium der MacArthur-Stiftung vorschlagen«, witzelte Jon in der Hoffnung, dass die grauen Augen ihn nicht gleich mit demselben ausdruckslosen Blick bedachten, mit dem die Leute ihn meistens anschauten, wenn er diese Art von Scherzen machte. Stattdessen lachte sie. Sie lachte! Vielleicht war es ja leichter, als er geglaubt hatte. Vielleicht musste man ja nur mit der richtigen
Second-Hand-Jacke zur rechten Zeit am rechten Ort
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