Tolle Maenner
doch weiblich, attraktiv und single sein. Ein ganz anderes Problem würde es bedeuten herauszufinden, ob sie noch zu haben war. Er sah eine Blondine, doch die war ein wenig zu schlank, zu groß und zu hübsch. Die Art, wie sie den Kopf bewegte und ihr Haar herumwarf wie Tausende von Seidenfäden, vermittelte ihm das Gefühl, als ob sie es nur tat, um die Blicke anderer auf sich zu lenken. Wahrscheinlich spielte sie mit dem Gedanken, nach L.A. zu ziehen; die war eine Stufe zu hoch für ihn.
Als Nächstes machte er einen Rotschopf mit Locken aus, die so lebendig wirkten, als hätte sie ein Profi verstrubbelt. Vielleicht war dem ja so. Vermutlich legten die Leute für so etwas Geld hin. Jedenfalls sah die Frau süß aus, und das reichte schließlich. Na denn, auf geht’s, sagte er sich. Statt den Hut in den Ring warf er seine Tasche aufs Förderband, ging so lässig wie nur irgend möglich herum und überlegte, was er zu einer wildfremden Frau sagen konnte.
Erst als er fast schon neben ihr stand und freien Blick auf ihre mittlere Region hatte, erkannte er, dass sie sehr, sehr schwanger war. Offenbar hatte sie auch jemand anderem gefallen. So viel zu diesem Plan.
Nachdem ihm die Blonde zu hoch und der Rotschopf zu schwanger war, blieben ihm nicht mehr allzu viele Möglichkeiten. Er betrachtete die Menschenmenge. Die Großmütter mit einem Spielzeug unterm Arm interessierten ihn ebenso wenig wie die entnervten Mütter mit Kindern im Schlepptau, Kindern, die nach der Enge im Flugzeug nun kaum mehr zu bändigen waren. Alle anderen Passagiere schienen männlich zu sein – mit Ausnahme einer Person, die weit größer war als er und seidene Pyjamahosen und ein Brooks-Brothers-artiges Baumwollhemd trug. Es hätte ein Mann sein können, es hätte auch eine Frau sein können. Oder jemand, der gerade dabei war, sich von einem ins andere zu verwandeln. Da Jon jedoch nie auch nur den leisesten Wunsch verspürt hatte, die berühmte Szene aus The Crying Game nachzuspielen, dachte er sich, er hätte genug eigene Probleme, und begann allmählich zu verzweifeln.
Als er den Blick vom Gepäckband abwendete, begann er schlappzumachen, ein Zustand, der bei ihm immer die totale Niederlage einläutete. Da bemerkte er die junge Frau, die am Gepäckband nebenan stand. Er hielt den Atem an. Vielleicht musste er sich doch noch nicht geschlagen zurückziehen. Ein Sonnenstrahl – im grauen Seattle eine Rarität – illuminierte sie, als wäre sie Teil eines mittelalterlichen Manuskripts. Sie war absolut vollkommen. Irgendwie erinnerte sie ihn an jemanden. Es
war nicht das feine, hellbraune Haar, das ihr bis knapp über die Ohren reichte, oder ihr Profil, das, wie er feststellen konnte, den allerbesten Kameenschnitzer verdient hätte. Es war etwas an der Art, wie sie die Schultern straffte, an ihrer ganzen Haltung, was ihn spontan zu ihr hinzog. Tracie würde genauso dastehen, wenn sie auf Gepäck wartete. Sein Herz tat einen Sprung, aber nur einen.
Denn die Frau – sie war vielleicht ein, zwei Jahre älter als er, älter aber nicht – kam offenbar aus dem Flugzeug von San Francisco. Das war eine ganz andere Kategorie von Passagier. Stammt sie aus San Francisco und war nur zu Besuch hier, dann war sie höchstwahrscheinlich viel zu cool für ihn. Stammte sie andererseits aus Seattle und war nur für einen Urlaub in San Francisco gewesen, hatte er womöglich eine Chance. Falls sie aber jetzt in Seattle wohnte, aber in San Francisco aufgewachsen war und soeben von einem Besuch bei ihrer Familie zurückkam, dann...
Jon zwang sich, mit diesem Unsinn aufzuhören. Er bewies damit nur, dass es schon irgendeinen Weg gäbe, auf den er verfallen könnte, um nicht das tun zu müssen, wovor er sich am meisten fürchtete. Er schaute die Frau noch einmal an. Sie war wirklich schön. »Die ist es«, murmelte er laut. »Jetzt aber ran.«
Er versuchte, lässig wie James Dean zu gehen, und schlich sich, unbelastet von Gepäck oder Hüfttasche, an die Schöne ran. Sie bemerkte ihn überhaupt nicht; ihr ganzes Gewicht schien auf der linken Hüfte zu ruhen, während sie mit dem rechten Fuß auf den Boden trommelte. Nicht, dass dies ein Zeichen von Ungeduld gewesen wäre; es war eher eine Art Stretching-Übung, die sie mit ihrem bezaubernden Fuß vollführte. Als er sie näher betrachtete, fiel ihm auf, dass einfach alles an ihr bezaubernd war, vom Kopf bis zu ihren rastlosen Zehen. Zeitgleich verspürte Jon ein lustvolles Ziehen in der Lendengegend und ein
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