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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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bleiben würde. Und ich wusste genau, dass beim Stillen eines Neugeborenen mehr als nur Saft in die Polster fließen würde.
    Der Sessel blieb bei uns – es war ein Restposten gewesen, der nicht umgetauscht werden konnte –, aber weiß blieb er nicht. Bald zierten ihn Flecken in allen erdenklichen Farben, lila (Rotwein), braun (Kaffee), rosa (Filzstift), blau (Schlumpfeis) und gelb (Milchbrei). Als Kind Nummer drei auf die Welt kam, war der Sessel bereits so von Flecken übersät, dass er an eine Weltkarte erinnerte. Aber stabil und äußerst bequem war er immer noch, die Armlehnen waren immer noch weich und bestens geeignet, um Kinder zu wiegen. Wir ließen ihn mit einem garantiert fleckenresistenten Material neu beziehen: ein fester, gedeckt lilafarbener Stoff mit einem Blumenrankenmuster.
    So fleckenresistent der Sessel auch war, gegen Katzen war er machtlos. Insbesondere gegen eine Katze: Milo. Der aus dem Tierheim stammende Kater war ein Geschenk für Michael gewesen. Er war schwarz-weiß, hatte langes Fell und ein gutmütiges Wesen – er maunzte nur selten und schärfte seine Krallen nie an unseren Möbeln. Doch einen kleinen Fehler hatte er: Hin und wieder markierte er den lila Sessel, nur ein ganz kleines, winziges bisschen, als wollte er uns klarmachen, dass sein Lieblingsplatz ihm allein gehörte. Milos Duftmarken funktionierten. Von nun an war der Sessel sein unumstrittenes Revier, kein Mensch hielt es mehr lange darauf aus. Mein Mann wollte ihn umgehend entsorgen, als er Milos Liebessekretionen roch, aber ich stellte mich quer. Ich hing einfach an dem guten Stück und verband mittlerweile zu viele Erinnerungen damit. Meredith hatte mit Peter auf dem Schoß darin gesessen und ihm vorgelesen, das Foto für Michaels Geburtsanzeige war auf dem Sessel entstanden, und George wollte am liebsten nur dort gestillt werden. In Peters Einaktern um Königinnen und Könige hatte er eine wichtige Rolle gespielt. Er roch vielleicht etwas streng, aber hochherrschaftlich war er immer noch.
    Ich verfrachtete den Sessel in die hinterste Ecke des Hauses und sprühte ihn täglich mit einem Wunderelixier ein, das Milo zuverlässig fernhielt und seine Duftmarke abschwächte. Inzwischen hatte der Sessel seinen Geruch verloren, und er war immer noch sehr solide und bequemer als je zuvor. Ja, ich würde den lila Sessel zu meinem Lesesessel erklären.
    Ich war so weit – ich wollte mich in meinen lila Sessel setzen und lesen. Seit vielen Jahren waren Bücher für mich ein Fenster, durch das ich sehen konnte, wie andere Menschen ihr Leben mit allen Sorgen und Freuden, Durststrecken und Enttäuschungen meisterten. In Büchern würde ich Anteilnahme und Orientierung finden, Gesellschaft und neue Erfahrungen. Seit drei Jahren trug ich schwer an dem Wissen um den Tod meiner Schwester, und ich wusste, dass es kein Mittel gegen meine Trauer gab. Ich hoffte nicht auf Linderung. Ich wollte Antworten. Bücher würden die Frage beantworten, die mich quälte: warum ich es verdiente, zu leben. Und wie ich leben sollte. Mein Lesejahr sollte mein Ausweg zurück ins Leben werden.

3
So viel Schönheit in der Welt
Als ich heute Abend daran denke, mit einem Herz und einem Magen wie Pudding, sage ich mir, dass das Leben letztlich vielleicht das ist: eine Menge Verzweiflung, aber auch ein paar Momente der Schönheit, in denen die Zeit nicht mehr die gleiche ist … ein Immer im Nie.
MURIEL BARBERY , Die Eleganz des Igels
      Ich schlug Muriel Barbérys Die Eleganz des Igels an meinem sechsundvierzigsten Geburtstag im Zug nach New York auf. Der Tag hatte mit einem Frühstück begonnen, das mir zusammen mit Küssen und Umarmungen, mit Briefen und selbst gebastelten Glückwunschkarten serviert wurde. Mein Sohn Michael hatte wie immer eine Geburtstagskarte mit genau abgezählten brennenden Kerzen darauf gemalt. Der Kuchen, auf dem sie standen, wirkte gefährlich: so viele Kerzen, so viel Feuer. Außerdem bekam ich eine Karte von den Katzen, die Jack mit »Die Katzen« unterzeichnet hatte. Wir haben immer Katzen gehabt, aber Jack kann sich nie merken, wie sie heißen.
    Ich machte die Briefe auf, die im Laufe der letzten Tage für mich gekommen waren. Einer von meinen Eltern, einer von Jacks Eltern mit einem Geldgeschenk darin. Mit ihren mehr als fünfzig Kindern, Enkeln, Urenkeln, Schwiegertöchtern und -söhnen würden Jacks Eltern eines Tages an ihren Geburtstagsgaben bankrott gehen, aber bis dahin war immer ein Geschenk von ihnen da.
    Dann gab es

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