Tolstoi Und Der Lila Sessel
Anne-Marie zurück, wie sie leibte und lebte. Ich meinte, sie sagen zu hören: »Ja, Nina, so ist es. Das Leben ist hart und ungerecht. Aber es wird dich mit absolut hundertprozentiger Garantie – ohne jede Einschränkung – unerwartet und aus heiterem Himmel mit Schönheit, Freude, Liebe, Anerkennung und Euphorie beschenken.« Mit allem, was gut ist. Die Gabe, zu erkennen, was gut ist, und die Erinnerung an diesen Augenblick festzuhalten ermöglichen uns das Überleben. Und wenn wir das Schöne mit anderen teilen, keimt neue Hoffnung.
Viele betonen, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben, und beneiden die Kinder, die sich an jedem Augenblick uneingeschränkt freuen, ohne sich mit der Vergangenheit zu belasten oder über die Zukunft nachgrübeln zu müssen. Gut, einverstanden. Aber es sind doch unsere Erfahrungen – das gelebte Leben –, die es uns ermöglichen, an Augenblicke des Glücks zurückzudenken und von Neuem glücklich zu sein. Unsere Fähigkeit, einen schönen Moment noch einmal zu erleben, gibt uns Kraft zum Weitermachen. Sogar unser Überleben als Spezies ist von der Fähigkeit zum Erinnern abhängig (welche Beeren man nicht essen darf, dass man sich von den großen Tieren mit langen Zähnen fernhalten muss, dass man zum Wärmen am Feuer zusammenkommt, aber die Hand nicht hineinhalten darf). Auch unser inneres Gleichgewicht ist vom Gedächtnis abhängig. Warum hätten wir sonst solch ausgeprägte Geruchserinnerungen? Ich brauche bloß einen Nadelbaum zu riechen, schon gerate ich ins Schwärmen. Warum? Weil ich so viele schöne Stunden unter dem Weihnachtsbaum verbracht habe. Der Duft von Popcorn ist so ungemein verführerisch, weil er mich an alle die guten Filme erinnert, die ich gesehen habe. Der Geschmack grüner Oliven macht mich schrecklich hungrig, weil sie so oft köstliche Mahlzeiten und leckeren Wein begleitet haben.
Ich stand in der Küche und sah meine Kinder an, ihre Bilder aus dem Kunstunterricht an den Wänden, meine auf dem Tisch aufgereihten Glückwunschkarten, den Krug mit den letzten Zinnien aus unserem Garten. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen. Glückwunschkarten, die jedes Jahr gleich aussahen, andere neu; ein Bild, das mein Ältester im Kindergarten produziert hatte, daneben sein neuestes Werk aus der neunten Klasse. Die Küche hing voll Selbstgemaltem, Gebasteltem und Gedrucktem, das seine Brüder im Lauf der Jahre angefertigt hatten. Zinnien, die im Frühjahr gepflanzt und im Herbst gepflückt wurden. Die Verbindung aus Vergangenheit und Gegenwart ist es, die uns Hoffnung auf die Zukunft macht. Vielleicht waren es meine Vergangenheit und Gegenwart, die meine beiden Teile wieder zusammenkitten würde: die eine Hälfte, die immer noch in Anne-Maries Krankenzimmer verharrte, und die andere, die nicht schnell genug wegrennen konnte. Bücher, Vergangenheit und Gegenwart würden mich aufrichten, und ich würde Hoffnung aus dem schöpfen, was erinnert werden kann. Was nicht vergessen werden darf. Was das Blut stillt, wenn das Leben tiefe Wunden reißt.
Konnte mir der Gedanke an die Zeiten, in denen ich von innerem Frieden, Dankbarkeit oder Liebe erfüllt war, bei der schrecklichen Trauer um meine Schwester helfen? Renée zeigte Paloma – und mir –, dass wir nur die Augen aufhalten und die Schönheit solcher Momente bewusst wahrzunehmen brauchen, dann leben sie in unserem Gedächtnis weiter, und zwar für immer. Kakuro machte beiden, und mir, klar, dass die unendlichen Möglichkeiten des Lebens, unsere zukünftigen Erinnerungen, die gefunden und festgehalten werden wollen, das Gefängnis der Trauer langsam, aber sicher abtragen können.
Mir fiel wieder ein, wie viel Trost ich schon früher in Erinnerungen gefunden hatte. Mein drittes Studienjahr verbrachte ich im Ausland. Ein paar Monate, nachdem ich mein Studium in Barcelona aufgenommen hatte, ging ich allein ins Museu d’Art Modern im Parc de la Ciutadella. Aufgrund von Wetter und Jahreszeit (keine Touristensaison) war es leer im Museum, und ich schlenderte in Ruhe von einem Saal in den nächsten. Ich dachte über den jungen Spanier nach, von dem ich mich gerade getrennt hatte. Nico war ein netter Kerl, der gut aussah und ein tolles Motorrad fuhr, und damit hatte es sich so ziemlich. Unsere Beziehung war ohne größere Bedeutung – aber sie machte Spaß. Nico half mir über das schlimmste Heimweh hinweg und zeigte mir in Barcelona Orte, die ich ohne ihn nie entdeckt hätte. Ich vermutete, dass der
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