Tolstoi Und Der Lila Sessel
noch einen Stapel Karten für mich, ein ganzes Sortiment von Hallmark-Kitsch, den mein Mann liebt und auf den ich mich Jahr für Jahr mehr freue. Tränen und gerührtes Lächeln zu Erdnussbuttertoast und Kaffee. Ich war dankbar, dass ich geliebt wurde. Mir war bewusst, dass ich diese Liebe meistens als selbstverständlich hinnahm, genau wie früher das Leben, aber der heutige Tag sollte anders sein. Ich würde mein Lesejahr mit Dankbarkeit beginnen. Dankbarkeit, dass ich von so viel Leben und Liebe umgeben war. Dankbarkeit, dass ich mein siebenundvierzigstes Jahr erleben durfte.
Als Natasha anrief und mir einen schönen Geburtstag wünschte, zerdrückte ich noch ein paar Tränen. Nach dem Frühstück beantwortete ich E-Mails, die mir alles Gute für mein neues Lebensjahr wünschten. Nur wenige Gratulanten wussten von meinem Plan, ein Jahr lang täglich ein Buch zu lesen, und niemand erwähnte ihn. Sie alle gingen davon aus, dass ich meine Lesepläne bald aufgeben müsste, und wollten mir Peinlichkeiten ersparen. Sie waren sicher, dass mich die Verpflichtungen in der Schule oder kranke Kinder oder Ferien und Feiertage zwingen würden, hin und wieder einen Tag lang auszusetzen. Am Ende würde ich zurückstecken und ein oder zwei Bücher pro Woche lesen. Ich hingegen wusste ganz genau, dass ich bei meinem Buchprojekt bleiben würde. Ich wollte Disziplin. Ich würde Schule, Kindertaxi, Putzen, Kochen, Einkaufen in meinen Plan einbauen und trotzdem die Ziele, die ich mir gesteckt hatte, erreichen: Bildung, Glück und einen Freiraum. Ich lechzte danach, brauchte den Trost des Lesens und freute mich schon ungemein auf den Moment, da ich mit einem Buch in meinem lila Sessel Platz nehmen und es Arbeit nennen würde.
Lesen war immer schon meine Lieblingsbeschäftigung gewesen, aber jetzt würde es endlich eine ernst zu nehmende Aufgabe werden. Kaffeeklatsch, Elternabend, Fitnessstudio – für alles hatte ich jetzt die wunderbare Ausrede, ich müsse arbeiten. Fast alle fanden mein Vorhaben verrückt, aber das machte nichts, jedenfalls nicht viel. Es musste sein. Ich konnte mich glücklich schätzen, Zeit und familiäre Unterstützung auf meiner Seite zu haben – diese Chance würde ich nicht vertun. Sobald ich die Entscheidung getroffen hatte, mein »Ein-Buch-am-Tag«-Projekt durchzuziehen, stellte ich es nicht mehr infrage. Der Plan stand, und damit war für mich die Diskussion um pro oder kontra vorbei. Ich sparte mir die Zeit des Abwägens und stürzte mich lieber sofort in die Durchführung.
Als Jack und ich ans Heiraten gedacht hatten und dann ans Kinderkriegen, war es genauso gewesen. Ich traf meine Entscheidung und stürzte mich mit Leib und Seele in die Sache. Jack war der Richtige, und er wurde geheiratet, komme, was wolle. Vier Kinder wollte ich, und vier Kinder bekam ich, eins nach dem anderen.
Und jetzt hatte ich mich entschieden, jeden Tag ein Buch zu lesen. Die Entscheidung war vielleicht nicht ganz so weitreichend wie Jawort oder Schwangerschaft, aber dennoch war es eine Entscheidung.
Anfangs fand ich Die Eleganz des Igels etwas zäh. Auf den ersten vierzig Seiten des Romans gibt es eine Menge schwer verständlicher Anspielungen auf Philosophie und Musik, Film und Kunst. Aber dann verliebte ich mich ganz schnell in die beiden Erzählerinnen Paloma und Renée. Paloma ist zwölf Jahre alt und voller Lebensangst. Sie versteckt sich mit ihrer Intelligenz und Verzweiflung hinter scharfem Humor und Mangaheften. Von der Sinnlosigkeit des Lebens überzeugt, schwört sie, sich an ihrem dreizehnten Geburtstag umzubringen. Menschenskind! Das konnte das Mädchen doch nicht ernst meinen! Doch ich befürchtete das Schlimmste.
Renée, die Concierge des eleganten Hauses, in dem Paloma wohnt, versteckt sich hinter der Fassade einer dumpfen, schwerfälligen Unterschichtsdrohne, um unbemerkt durchs Leben zu kommen. Sie will ihre Ruhe haben, sich heimlich dem Genuss von Büchern, Musik, Kunst und gutem Essen hingeben. Als ich Renées Gedanken über Bücher las, wusste ich, dass ich eine Seelenverwandte gefunden hatte: »Wenn mich die Angst überkommt, begebe ich mich in mein Refugium. Ich brauche nicht weit zu reisen; die Sphären meines literarischen Gedächtnisses aufzusuchen ist schon genug. Denn gibt es eine edlere Ablenkung, nicht wahr, eine unterhaltsamere Gesellschaft, eine angenehmere Trance als die der Literatur?« Nein. Gibt es nicht.
Als mein Zug in New York einfuhr, war ich der Eleganz des Igels verfallen. Ich
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