Tolstoi Und Der Lila Sessel
legte das Buch gerade so lang beiseite, wie ich mit meinen Eltern und Jack zu Mittag aß. Wir saßen auf einem Balkon, von dem aus man die Haupthalle der Grand Central Station überblickt, und tranken Champagner. Während des Geburtstagsessens erzählte ich, dass es Anne-Marie gewesen war, die mich als Erste auf die grandiose Gewölbedecke des Bahnhofsgebäudes hingewiesen hatte, deren Kuppel mit goldenen Sternbildern ausgemalt ist. In Mark Helprins mystischem Wintermärchen kam die Kuppel vor (das Buch muss man gelesen haben, und sei es nur um ebendieser Deckenbeschreibung und der Szene willen, in der eine triumphierende Mutter, den Säugling auf den Rücken geschnallt, auf Schlittschuhen über den zugefrorenen Hudson River läuft), aber Anne-Marie hatte mich als Erste auf die Deckenmalerei hingewiesen. Damals, vor der Renovierung des Bahnhofs, waren die Sternkonstellationen nur schwer zu erkennen gewesen, doch mit Unterstützung von Anne-Maries Zeigefinger erkannte ich staunend die riesigen Sternbilder. Anne-Marie hatte immerhin Architekturführungen durch New York geleitet, als sie an der NYU Kunst studierte, und wusste, wovon sie sprach.
Das Deckengewölbe der Grand Central Station ist in vielerlei Hinsicht faszinierend, aber die wenigsten Menschen wissen, dass der gesamte Nachthimmel rückwärts abgebildet ist. Der Künstler, Paul César Helleu, malte den Himmel nach der Vorlage einer mittelalterlichen Handschrift, die Gottes Sicht aufs Universum darstellte – man betrachtet die Sterne sozusagen von oben und nicht von unten, von der Erde aus. »Vielleicht ist Helleu aber auch ein Riesenfehler unterlaufen, und er wollte sich mit der Mittelaltervorlage nur rausreden«, erläuterte Anne-Marie. Sie war ganz offensichtlich davon überzeugt, dass der Maler ein schlechter Schüler gewesen war und einen Riesenfehler begangen hatte. Sie selbst war so sorgfältig in ihrer Arbeit – unter ihrer Leitung wäre die Decke perfekt geworden, keine Frage.
Viel zu spät für den Schulbus der Highschool rannte ich nach dem Essen zum nächsten Zug, um wenigstens zu Hause zu sein, wenn die Jungs von der Mittelschule aus dem Bus stiegen. Während der Fahrt las ich weiter, und jegliche Müdigkeit nach mehreren Gläsern Champagner verflog angesichts der Handlung: Ich war hellwach und blickte kaum auf, als die Schaffnerin vorbeikam, murmelte nur »Danke schön« und blätterte weiter. Ein neuer Mieter zieht bei Paloma und Renée im Haus ein. Er freundet sich mit den beiden an; durch die sanfte Kraft von Kakuros Freundschaft werden erst Paloma und dann Renée aus der Reserve gelockt. Ganz allmählich offenbaren sie ihr Inneres und werden mit Verständnis und Anerkennung belohnt. Im Zusammensein erkennen die drei, Kakuro, Paloma und Renée, wie unendlich viele Überraschungen das Leben bereithält. Wie sich herausstellt, sind weder die Menschen noch das Leben vorhersehbar.
Ich war rechtzeitig zu Hause, um den Jungs ihre Stärkung nach der Schule zu servieren: Cracker mit Erdnussbutter, Apfelschnitze, Apfelsaft. Auch die Pralinen, die ich von meiner Mutter bekommen hatte, teilte ich mit ihnen. Ich bekam noch eine Runde Geburtstagsküsschen, dann verabschiedete ich mich und setzte mich in meinen lila Sessel. Ich hatte nur noch wenige Kapitel in Eleganz des Igels vor mir.
Würde Paloma aufhören, sich vor ihrer Zukunft zu fürchten? Würde Renée aufhören, sich vor ihrer Vergangenheit zu fürchten? Die letzten Seiten des Romans leuchteten in ihrer Weisheit. Jeden Augenblick, den wir erlebt haben, können wir zurückholen. Die Vergangenheit ist da, um uns im Hier und Jetzt Halt zu geben. Gutes ist geschehen und wird wieder geschehen. Augenblicke voller Schönheit und Licht und Glück sind unsterblich. Paloma nimmt sich vor, diese Augenblicke des »Immer im Nie« und mit ihnen den Sinn des Lebens zu finden. Sie kann sich auf Augenblicke der Schönheit freuen, weil sie genau weiß, dass es sie geben wird. Beweis dafür sind die schönen Augenblicke, die sie bereits erlebt hat. Auch ich konnte »diese Augenblicke des Immer im Nie« als Trost und als Versprechen für die Zukunft finden. Mit einem Mal wurde mir bewusst, was ich in den Jahren der Trauer um Anne-Marie völlig vergessen hatte: dass ich ja meine Erinnerungen an Anne-Marie hatte, an denen ich mich festhalten konnte.
Ich ging nach nebenan in die Küche, knallte das Buch auf den Tisch und sagte zu meinen Kindern: »Das wird ein tolles Jahr.«
Die Eleganz des Igels brachte mir
Weitere Kostenlose Bücher