Tolstoi Und Der Lila Sessel
Unterhaltungswert einer amerikanischen Freundin für ihn ebenfalls bald nachließ, insbesondere, da ich nicht zu mehr bereit war, als mich von hinten an ihn zu schmiegen, wenn wir uns auf dem Motorrad durch den Verkehr schlängelten. Wenn wir abends zusammen ausgingen, küssten und umarmten wir uns, aber allem Weiteren widersetzte ich mich. Ich wollte nicht dem Klischee der leichtlebigen Amerikanerin entsprechen und vermutete, dass irgendeine Exfreundin geduldig auf ihn wartete, wenn er mich abends nach Hause gebracht hatte.
Am Abend vor meinem Besuch im Museum hatte Nico mich zu einer Motorradtour abgeholt, die an der Mittelmeerküste östlich von Barcelona entlangführte. Wir kamen schließlich an einen langen Pier, auf dem reges Treiben herrschte: Neben uns rollten viele andere Motorräder langsam über die breiten Holzbohlen, die hinaus aufs Meer führten. Wir fuhren fast bis ganz ans Ende des Kais, stiegen ab und blickten auf die schwarze Wasserfläche.
Plötzlich kam der Mond hinter den Wolken hervor, und das Meer erwachte zum Leben, glitzerte und funkelte im gewellten Band des Mondlichts. Ich erinnere mich noch genau an die Abendfrische, den Salzgeruch in der Luft, die leisen Stimmen anderer Paare, die auf dem Pier auf und ab fuhren, und das hypnotisierende Spiel des Mondlichts auf dem Wasser. Nico wollte mich küssen und streicheln, aber ich machte mich von ihm los und trat näher zum Meer hin. Diesen Blick wollte ich in mir aufnehmen. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. Reflexionen explodierten im Wasser wie ein Feuerwerk am Himmel, das Mondlicht brach und spiegelte sich auf den Wellen. Ich wollte nicht mehr weg. Ich wollte auf dem Pier stehen bleiben, bis das Mondlicht zur Ruhe kam. Ich wollte da sein, wenn die Sonne aufging und der wärmende Glanz des Tages sich über dem Wasser ausbreitete. Aber Nico bestand darauf, wir müssten in die Stadt zurück. Ich stieg auf sein Motorrad, und wir fuhren los. Wir wussten beide, dass unsere Beziehung vorbei war.
Als ich am nächsten Tag durch das Museum ging, bemerkte ich das Gemälde eines Sonnenaufgangs. Es war zwar nicht der Sonnenaufgang, von dem ich in der vorigen Nacht geträumt hatte, Orange und Rosa über einer endlosen Wasserfläche. Schön war das Gemälde trotzdem. Eine weite Landschaft, das erste Morgenrot erhellt den Himmel über einem dunklen Berghang. In einer Ecke ist ein Einsiedler zu sehen, der gerade aus seiner Höhle tritt. Er hat die Kapuze seines Mantels zurückgeschoben und blickt über das Land. Aprikosenfarbene Lichtstreifen leuchten vor dem blassgrauen Himmel über der dunklen Höhle des Einsiedlers. Das Gras vor dem Unterschlupf wirkt frostig, wie von Raureif überzogen, doch am Berghang öffnen sich kleine Blüten in den ersten Strahlen der Sonne. Ob auch Vögel auf dem Bild zu sehen waren, weiß ich nicht, aber hören konnte ich sie auf jeden Fall. Fast eine geschlagene Stunde lang stand ich vor dem Gemälde, hörte das Vogelgezwitscher, spürte den wärmenden Frühlingswind, den Herzschlag des Lebens, die Dankbarkeit für einen weiteren Tag auf der Welt.
Ich stand da, und Erinnerungen an Morgen, an denen ich früh aufgewacht und hinaus in einen gerade erst anbrechenden Tag gegangen war (der orangerosa übertupfte Himmel, der Tau am Boden, die kalte Luft, die Vögel), verschmolzen mit der Betrachtung des Gemäldes, jetzt, in diesem Augenblick. Erfahrungen und Erinnerungen woben einen Kokon um mich: die vergangene Nacht mit der Ahnung des Morgengrauens, das Gemälde vor mir, vergangene Sonnenaufgänge. Die vom Bild heraufbeschworenen Erinnerungen trösteten mich an diesem kalten, regnerischen Tag in Barcelona. Als ich dort stand und den Einsiedler in seinem Bergidyll betrachtete, wusste ich, dass ich in Barcelona nicht einsam sein würde. Ich würde morgens mit der gleichen Freude aufwachen, die in diesem Gemälde zum Ausdruck kam. Ich konnte das Museum verlassen und an meine Erinnerungen an das Bild denken und alles, was es in mir ausgelöst hatte, und es würde mir gut gehen. Und die Erinnerung an den Vorabend, die Fahrt ans Ende des Piers, die Arme um einen jungen Spanier geschlungen, den ich nie mehr wiedersehen würde, die Kälte und die Salzluft und dann das plötzliche Funkeln des Mondlichts auf dem Wasser: Auch diese Erinnerung konnte ich bewahren. Und genau das habe ich all die Jahre getan.
Als mein Ältester ein paar Monate alt war, ging ich mit ihm auf die Great Lawn im Central Park. Das war, bevor die Stadt New
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