Tolstoi Und Der Lila Sessel
durchschnittlicher Höhe (22–25 Zentimeter) haben im Allgemeinen zwischen 250 und 300 Seiten. Ich lese 70 Seiten pro Stunde, kann also ein 300 Seiten dickes Buch in etwas mehr als vier Stunden auslesen. Dazu kommt die Zeit für die Besprechung des Buches. Nach den wenigen Rezensionen, die ich in den ersten Tagen geschrieben hatte, wusste ich, dass es schwer vorherzusagen war, wie lange ich dafür brauchen würde: eine halbe Stunde oder fünf Stunden, je nachdem, wie viel mir das Buch bedeutete oder wie schwierig es war, meine Gefühle für das Buch in Worte auf dem Computerbildschirm zu übertragen. Ich setzte eine Durchschnittszeit von zwei Stunden für die Besprechungen an und machte das zur Grundlage meiner Planung.
Sechs Stunden zum Lesen und Schreiben entsprachen ungefähr der Zeit, die ich jeden Tag für mich hatte, zumindest von Montag bis Freitag. Am Wochenende war alles möglich, aber ich konnte zumindest vier Stunden jeden Morgen für mich reservieren, jedenfalls, wenn ich früh aufstand. Ich plante das vor mir liegende Jahr: Wenn ich meine Kritiken in zwei Stunden schrieb und ins Internet stellte, schaffte ich mein tägliches Buchpensum sicher, bis die Schulbusse vorfuhren (und die darauf folgende Woge von Snacks, Hausaufgaben, Aktivitäten und Glücks- oder Verzweiflungsausbrüchen durchs Haus schwappte). Ich hatte immer noch Zeit zum Kochen (nichts Tolles, aber auch nicht schlechter als vor meinem Lesejahr), konnte die Wäscheberge unter Kontrolle halten (saubere Unterwäsche für alle) und das Gröbste sauber machen. Am Wochenende würde ich auch abends lesen müssen, aber das machte nichts – einmal würde Jack warm kochen und einmal käme der Pizzaexpress. Ich konnte meine Kritiken schreiben, meine Bücher genießen und trotzdem noch für meine Familie da sein: als »Empfangsdame«, Fahrerin, Einkäuferin und Serviererin, Putzfrau, Köchin, Freundin, Beraterin, Mahnerin, Geliebte (für meinen Mann, leider zu selten) und weiterhin das Oberkommando im Haushalt führen.
Und nun war ich also hier: umrundete die Bücherregale in der Stadtbücherei und hielt nach guten Titeln mit dem richtigen Umfang Ausschau, nach interessanten, neuen und auch einigen mir schon bekannten Autoren. Ich nahm Bücher zur Hand und stellte sie wieder weg. Ungefähr acht fand ich, die ich lesen wollte. Ich lieh sie aus und stellte sie zu Hause in das Regal neben die Bücher, die ich zum Geburtstag bekommen hatte. Das, was in den letzten Jahren genug Lesestoff für ein oder zwei Monate gewesen wäre, reichte jetzt nicht einmal für zwei Wochen. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Es würde klappen! Ich fühlte mich, als hätte ich gerade das beste Schnäppchen meines Lebens gemacht und zugleich einen Sechser im Lotto gewonnen. Ich war einfach dankbar. Das Leben war gut.
Ich streifte mit dem Blick über die Buchrücken, die mich auf dem Regal erwarteten. An Eine Zeit ohne Tod von José Saramago blieb ich hängen. Der portugiesische Autor bekam 1998 den Literaturnobelpreis. Ich liebte seine Bücher Stadt der Blinden (verfilmt mit Julianne Moore, Mark Ruffalo und Danny Glover) und Das Zentrum . Auf Englisch war zuletzt Eine Zeit ohne Tod erschienen, das ich in dem Regal für Neuerscheinungen entdeckt hatte. Es musste innerhalb von drei Tagen zurückgebracht werden. Nichts leichter als das: Ich würde es heute lesen, morgen besprechen und am Wochenende wieder abgeben.
Ich ging mit dem Buch in die Küche, um mir etwas zu Mittag zu machen. Nach meinem Ausflug in die Bücherei war ich heute etwas spät dran, aber Eine Zeit ohne Tod hat nicht einmal 300 Seiten, und ich wusste, dass die Seiten bei Saramago nur so fliegen würden.
Das Buch beginnt mit dem Satz: »Am darauf folgenden Tag starb niemand.« Und so fand ich mich in einem Land wieder, in dem niemand stirbt. Das klang gut. 35 Minuten und 43 Seiten später klingelte das Telefon. Die Anruferkennung zeigte, dass es eine Nummer der Westport Public Schools war. Diesen Anruf musste ich annehmen. Ich legte meinen Bleistift als Lesezeichen ins Buch und drückte die Sprechtaste.
»Hallo, Nina. Hier ist Sandra von der Kings Highway. Martin war heute schon zweimal bei mir und hat über Bauchweh geklagt, und jetzt hat er sich übergeben.« Sandra war die Krankenschwester an Martins Schule, und sie erkannte, wenn es Kindern schlecht ging, ob körperlich oder seelisch. Diesmal schien die Diagnose eindeutig: Martin musste nach Hause ins Bett.
»Ist es schlimm?«
Sandra
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