Tolstoi Und Der Lila Sessel
York die Rasenfläche aufpeppte. Heutzutage ist es feinster englischer Rasen, der hin und wieder von einem Ballspielplatz mit geharktem Sand unterbrochen und von einer ganzen (gnadenlosen) Gärtnerarmee in Schuss gehalten wird. Die gesamte Great Lawn wird von einem hohen Zaun umgeben, und die paar Törchen, die den Zutritt gestatten, werden geschlossen, sobald es geregnet hat und der Boden feucht und trittempfindlich ist, und an anderen Tagen auch, anscheinend völlig grundlos. Doch damals im Herbst, als Peter noch ein Säugling war, war die Great Lawn ein staubiges Gelände voller Erdlöcher, struppigem Gras und Müll. Damals war sie nicht von einem Riesenzaun umgeben, sondern von Bäumen in prächtigster Herbstfärbung. Die Luft war klar und kalt, und die Sonne würde bald untergehen. Ich setzte mich auf einen kleinen Erdhügel, nahm Peter auf den Schoß und sann darüber nach, was dieser Augenblick bedeuten mochte. Unser Weg hierher über das unebene Terrain in der aufkommenden Kälte, der Ledergeruch der festgestampften Erde, das letzte Tageslicht, in dem das Herbstlaub an den Bäumen wie Rost aufleuchtete: Ich wusste, dass mir dieser Augenblick mit meinem Sohn unvergesslich bleiben würde. Aber würde auch Peter sich daran erinnern? Würden seine Sinne Jahre später genauso auf den Herbst mit der Kälte, dem Licht, dem Geruch ansprechen, würde er die gleiche Begeisterung verspüren, wenn er auf das Ende des Tages wartete? Ich wollte, dass er dann genau wie damals auf meinem Schoß wusste, dass ich ihn liebte, und diese Liebe auch spürte, wenn ich weit weg war – als ein bisschen Wärme in der anziehenden Kälte.
Das ist eine Gabe von uns Menschen: die Schönheit eines Augenblicks ein ganzes Leben lang zu bewahren. Die Schönheit zeigt sich uns, und dankbar nehmen wir sie an. Vielleicht können wir später Zeit und Ort nicht mehr benennen, aber die Erinnerungen sind trotzdem mit einem Mal wieder da und werden ganz unerwartet wieder lebendig. Der Duft von Kiefernzapfen, der Geruch von Popcorn, ein kaltes Bier, die Schärfe von Pfefferminz – eine Melange von Gefühlen und dann plötzliche Klarheit: Schönheit, Freude, Traurigkeit. Wir stehen auf den soliden Pfeilern des Gedächtnisses. Wir nähren uns von dem, was die Vergangenheit an Vorräten angehäuft hat.
Wenige Wochen vor ihrem Tod ging Anne-Marie im Conservatory Garden im Central Park spazieren. Der Conservatory Garden ist vollständig umschlossen, eines der wenigen eingezäunten Gelände im riesigen Central Park. Doch im Gegensatz zu den schmucklosen Zäunen von Krocketplatz, Sheep Meadow und Great Lawn ist der Conservatory Garden von verwilderten Büschen, ausladenden Bäumen, moosüberwachsenen Mauern und schmiedeeisernen Toren wunderschön umschlossen. Der Garten ist eine Symphonie aus Farben und Skulpturen, Springbrunnen und Bänken, Laubengängen und sonnigen Ecken. Im Frühling blühen hier zehntausend Tulpen, der Sommer ist eine wahre Explosion von Blüten, Ranken, Büschen und Gräsern. Im Herbst leuchten Chrysanthemen in allen Schattierungen aus Lila, Weiß, Rosa und Orange. Im Winter herrscht Stille: nackte Baumzweige wie ein Scherenschnitt vor dem Himmel, leere, schweigende Brunnen.
Der Tag, an dem Anne-Marie dort spazieren ging, war ein sonniger Apriltag. Ihr letzter April. Das grüne Laub der Pfingstrosen und Schwertlilien bildete den Hintergrund für die violetten und weißen Krokusse, die Narzissen in Zitronengelb, Weiß und Dottergelb, die Blautöne von Scilla und Hyazinthen. Anne-Marie stützte sich beim Gehen schwer auf Marvin, freute sich aber, draußen zu sein. An diesem Morgen hatten sie einen Anruf bekommen. Ein Kollege hatte Selbstmord begangen, ein junger Mann, der alle Hoffnung verloren hatte. Anne-Marie und Marvin gingen im Garten spazieren und sprachen über seinen Tod. Anne-Marie sah die Frühlingsblumen um sich herum und blickte hinauf in den blauen Himmel, der zwischen den blühenden Apfelbäumen hindurchblitzte. So krank sie auch war und so sicher sie wusste, dass ihr der Tod bevorstand, sie sagte zu Marvin, sie könne Selbstmord nicht verstehen, die völlige Verzweiflung, die jemanden dazu treiben kann, sich das Leben zu nehmen: »Wie kann man verzweifeln, wenn so viel Schönheit in der Welt ist?«
Sie hatte recht. Es gibt immer einen Ausweg aus der Verzweiflung, und das ist das Versprechen der in der Zukunft wartenden Schönheit. Ich weiß, dass es schöne Augenblicke geben wird, weil ich sie in der Vergangenheit
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