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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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selbst erlebt habe. Aprikosenpyramiden in Rom, Waschbärenspuren im Schnee, Austernschalen, vom Winter weiß gebleicht; die zartgrünen Blättchen im Frühling, die rostroten Blätter im Herbst; Vermeers Junge Frau mit Wasserkrug , Connecticuts alte Bruchsteinmauern, die unseren Garten einrahmen; Venedig im rosigen Abendlicht von Himmel und Meer: Erinnerungen an Schönheit, manche teilt man mit anderen, manche erlebt man allein.
    Colum McCann erzählt in seinem Roman Die Große Welt von einem Besuch, den er als kleiner Junge in London gemacht hat. Er reiste aus Dublin an, um seinen sterbenden Großvater zu sehen. Sein Vater ging mit ihm einen Hamburger essen, und als die Kellnerin, ebenfalls Irin, hörte, warum der Kleine in London war, strich sie ihm über die Wange und brachte ihm einen Eisbecher. Diese Kellnerin hat er sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Der Augenblick ihrer Anteilnahme war eine der vielen zufälligen Verbindungen, die McCann veranlassten, dieses großartige Buch zu schreiben. Solche Augenblicke lassen sich hinüberretten in schlechte Zeiten. Sie geben uns den Glauben an eine freundliche, versöhnliche Welt zurück. Diese Augenblicke sind pure Schönheit.
    In seinem Buch Nichts, was man fürchten müsste schreibt Julian Barnes, die Erinnerung an schöne Augenblicke schenke ihm den Glauben, dass sie wiederkehren werden. Es ist für Barnes unvorstellbar, das Leben abzuschreiben: »Ich bin nicht so von der Nichtigkeit des Lebens überzeugt, dass die Aussicht auf einen neuen Roman oder einen neuen Freund (oder einen alten Roman oder alten Freund) oder auf ein Fußballspiel im Fernsehen (oder auch nur die Wiederholung eines alten Spiels) mein Interesse nicht wieder neu entfachen kann.« Ich liebe diesen Satz deshalb so sehr, weil Barnes die kleinen, stillen Freuden feiert. Für ihn sind sie Grund genug, um weiterzuleben. Das Glück, mein Neugeborenes im Arm zu halten, werde ich nie wieder erleben – das ist für mich Vergangenheit –, aber die Freude an einem Buch oder einem Gemälde oder einem Spaziergang im Park werde ich in Zukunft sicher wieder erleben.
    Rückwärts schauen, um weiterzugehen. In ihrem Gedicht Stepping Backward empfiehlt Adrienne Rich den Blick zurück für eine umfassendere Perspektive: »Wir leben Zoll um Zoll, und nur manchmal sehen wir das Ganze.« Wenn ich zurückschaue, erstreckt sich mein gesamtes Leben vor meinem inneren Auge, und ich erkenne, was nötig war, um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin, und was ich von dem Leben will, das noch vor mir liegt. Der Blick aufs Ganze, die weite Perspektive: Wenn ich zurückblicke und mich erinnere, tritt klar hervor, was wichtig ist und was nicht.
    Ich verstand, warum ich an diesen Punkt gelangt war. Ich würde lesen wie geplant. Aber es war ebenso wichtig, dass ich mich mit meiner Vergangenheit beschäftigte. Die Eleganz des Igels hatte mir den ersten Hinweis in dieser Richtung gegeben: Mein Plan würde sich im Laufe des Jahres verändern, und ich konnte unmöglich vorhersehen, wie. Doch ich wusste jetzt schon, dass alles ganz anders verlaufen würde, als ich erwartet hatte. Trost, ja; Vergnügen, natürlich. Doch nun war noch eine weitere Aufgabe dazugekommen: Meine Erinnerungen zu bergen und, noch wichtiger, auch andere an dem teilhaben zu lassen, was ich in den Büchern fand. Ich würde über das schreiben, was ich las – und zwar nicht nur für mich selbst, sondern für alle, die auf meiner Website »Read All Day« vorbeischauten. Ich würde den Zauber der Bücher, in die ich mich versenkte, mit anderen teilen, den »seltenen Augenblick der Schönheit« und das »Nie im Immer« finden. Was würde ansonsten aus meinem Plan werden? Ich hatte keine Ahnung. Das Jahr magischen Lesens hatte begonnen.

4
Auf der Suche nach Büchern und Zeit
»Was habe ich ihr denn je gegeben?«
»Glück«, sagte sie. »Das Glück des Schenkens.«
EDITH WHARTON , Der Prüfstein
      Anfang November ging ich in der Stadtbücherei auf die Suche nach Büchern. Ich erweiterte die Methode, mit der ich mein Leben lang erfolgreich Bibliotheken durchstöbert hatte, um eine neue Formel und hatte am Ende einen ganzen Stapel für meine zweite Lesewoche zusammengetragen. Meine Methode: Wie gewohnt, ließ ich den Blick über die Bücherregale schweifen und griff nach allem, was einen viel versprechenden Titel hatte; jetzt nahm ich allerdings nur noch Bücher in die Hand, die nicht dicker als 2,5 Zentimeter waren. 2,5 Zentimeter dicke gebundene Bücher

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