Tolstoi Und Der Lila Sessel
wusste, was ich meinte: Hatte es Tränen gegeben? »Nein, nein, alles in Ordnung, er will nur seine Mama und einen Eimer neben dem Bett.«
»Geht bei euch gerade was rum?«
»Ja, und es ist eine böse Geschichte, dauert in der Regel nur vierundzwanzig Stunden, das aber heftig.«
»Ich hol ihn ab. In zehn Minuten bin ich da.«
Es war halb zehn am Abend, bevor ich Eine Zeit ohne Tod wieder in die Hand nahm. Martin musste versorgt, Essen für die anderen gekocht, die Jungs ins Bett gebracht werden. Jetzt blieben mir noch zweieinhalb Stunden bis Mitternacht und noch fast 200 Seiten zu lesen. Ich sank in den lila Sessel und vertiefte mich in den Roman. Ich spürte den Sog der Worte, dem ich mich nicht widersetzen konnte, und war gespannt, wie es weiterging. Mein Glück, dass die letzten Kapitel die besten sind – aber das ganze Buch ist einfach unglaublich gut. Gegen elf Uhr abends war jede Müdigkeit verflogen. Unmöglich einzuschlafen, wenn Frau Tod versucht, den jungen Mann zu verführen, in den sie sich verliebt hat, und schließlich vor der Liebe kapituliert. Die Liebe besiegt den Tod – ja!
Mitternacht. Ich hatte das Buch ausgelesen und seufzte zufrieden. Es war ein großartiger Roman, und es reizte mich, darüber zu schreiben. Kein Problem, dass ich so spät noch wach war. Das Wochenende hatte begonnen, und ich konnte am nächsten Morgen ausschlafen. Ich stellte den Wecker auf sieben Uhr (eine ganze Stunde mehr Schlaf!), knipste das Licht aus und schlief ein.
Da es samstags im Fernsehen ein Nonstop-Comicprogramm gibt, wehrte Martin sich nicht dagegen, den ganzen Tag auf dem Sofa liegen zu bleiben. Schwieriger war es, ihn von seinen Brüdern fernzuhalten, aber es musste sein. Ich wollte nicht, dass wir uns alle den Virus einfingen. Ich schwenkte den (leeren) blauen Eimer über dem Kopf, warnte die Älteren vor dem Magen-Darm-Virus und erklärte ihnen, dass Martin allein und von allen unbehelligt auf dem Sofa bleiben müsse. Der Anblick des Eimers wirkte offensichtlich abschreckend genug, und als Jack den Jungs anbot, mit ihnen Pfannkuchen essen zu gehen, war ich allein im Haus. Allein mit einem kotzenden Kind.
Ich schrieb meine Buchbesprechung häppchenweise, lief zwischen dem armen Martin, bleich und zitternd, und der Badewanne hin und her. Er sah so klein aus auf dem großen grünen Sofa, ganz unter der Fleecedecke verschwunden, ein mageres Ärmchen hervorgestreckt, um sich am Eimer festzuhalten. Ich saß neben ihm, strich ihm die Haare aus dem Gesicht und fühlte seine Stirn. Fieber hatte er nicht. Ich rannte zurück zum Computer und rang mit der Rezension. Zurück zu Martin und dem Eimer. Zurück zum Computer, um die Rezension endlich zu posten.
Am Nachmittag schlief Martin stundenlang, und ich saß bei ihm und las. Ich entschied mich für die Novelle Der Prüfstein von Edith Wharton, schön kurz, und merkte, wie ich ruhig wurde und gemütlich neben Martin in die Couch sank. Zur Abendessenszeit ging es Martin schon viel besser, er rannte seine Brüdern hinterher und verlangte lautstark nach Essen. Jack kochte Spaghetti, und ich las Der Prüfstein .
In der Novelle Der Prüfstein geht es, wie in allen Büchern Edith Whartons, um Moral und Identität. Sie ist unübertroffen darin, den Vorhang aus »Anstand« und Schicklichkeit wegzuziehen und die Dualität des Lebens zu offenbaren, den ständigen Kampf zwischen der öffentlichen Selbstdarstellung und dem bewussten Verbergen des Privaten und Peinlichen, um der Respektabilität, des Wohlstands und vor allem der Sicherheit willen. Wharton verpackt ihre Einsichten in das Wesen des Menschen in hochspannende Geschichten um Intrigen, Liebe und Verrat. Der Prüfstein ist meisterhaft erzählt und schnell und gewinnbringend zu lesen.
Ich las das Buch zu Ende, als das Abendessen auf den Tisch kam. Mal schüttete ich mich aus vor Lachen über Whartons schreiend komische Passagen über den »Segen« des Ehelebens (»Der Rasen war so glatt und gleichmäßig wie eine frisch rasierte Wange, und eine karmesinrote Kletterrose wand sich hinauf zum Fenster eines Babys, das niemals brüllte«), mal erstaunte ich angesichts ihrer Einsichten in das Wesen der Wohltätigkeit, bei der »das Glück des Schenkens« beiden Seiten Befriedigung verschafft, dem Bedürftigen und demjenigen, der dem anderen hilft. Ich nahm mir hoch und heilig vor, den Abend für Jack zu reservieren, meinen großzügigen, warmherzigen Mann, der für alle drei Mahlzeiten des Tages gesorgt hatte, damit
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