Tolstoi Und Der Lila Sessel
nacheinander den Tisch decken und abräumen. Die Kinder sollten außerdem bei der Wäsche mit anpacken, die Schmutzwäsche in die Waschküche bringen und saubere Sachen in die Schränke räumen.
»Dafür bekommt ihr mehr Taschengeld«, versprach ich.
»Aber du vergisst immer, uns das Taschengeld zu geben«, sagte Michael.
»Und ihr vergesst immer, mich zu fragen«, antwortete ich und versuchte, mir ein für allemal zu merken, das Taschengeld auch wirklich jede Woche pünktlich auszuzahlen.
Nach dem Essen kam George mit einem Buch in der Hand zu mir. »Ich finde, das hier musst du lesen, Mom. Es wird dir bestimmt gefallen.«
Ich nahm das Buch. Unten am Fluss von Richard Adams. Eins von Georges Lieblingsbüchern. Ich schlug die letzte Seite auf. Der Roman war fast 500 Seiten lang. Ich sah George an. In seinem Blick lag etwas Herausforderndes und zugleich Flehendes.
»Wenn du schon jeden Tag ein Buch lesen willst, dann musst du auch gute Bücher lesen«, versuchte er mich zu überzeugen, »und das hier ist gut, das weiß ich. Du musst es lesen.«
Ich nickte. »Natürlich lese ich es.« Ich legte es auf die Anrichte, ganz oben auf einen Stapel anderer Bücher. »Das wird dann aber wirklich ein langer Lesetag«, sagte ich.
»Was, du liest es nicht morgen?«, fragte er enttäuscht.
»Nein, morgen nicht, aber bald, ich versprech’s dir.«
George runzelte die Stirn, und ich seufzte innerlich auf. Es würde verdammt schwierig werden, einen Tag zu finden, an dem ich genug Zeit für so ein dickes Buch hätte. Aber wie sollte ich einem meiner Söhne etwas ausschlagen?
Der Frau in unserer Reinigung zufolge habe ich vier Jungen auf die Welt gebracht, weil ich in unserer Hochzeitsnacht Datteln gegessen habe. Die ehelichen Aktivitäten, denen wir in jener Nacht und in regelmäßigen Abständen in den folgenden Monaten und Jahren nachgingen, spielen laut Mrs Kahng keine große Rolle. Anhand von Hochzeitsfotos ihres Sohnes erläuterte sie mir eine alte koreanische Sitte. Auf einem Foto sieht man, wie Mrs Kahng ihren Sohn und die frisch gebackene Schwiegertochter mit Maronen und Datteln bewirft, während die beiden versuchen, mit einem zwischen ihnen ausgebreiteten Tuch möglichst viele davon aufzufangen. Mrs Kahng sieht stolz aus, der Bräutigam belustigt, die Braut zu allem entschlossen. Die aufgefangenen Esskastanien zeigen die Anzahl der Töchter an, die das Paar haben wird, und die Datteln die der Söhne.
Mrs Kahng zeigte mir ein anderes Foto, auf dem das frisch vermählte Paar mit einem bunt verpackten Päckchen zu sehen ist.
»Darin sind die Kastanien und Datteln, die sie gefangen haben«, erläuterte sie. »Die müssen sie in der Hochzeitsnacht essen, und dann …« Zwinkern, ein verschwörerischer Stups mit dem Ellbogen. Ja, ja, ich verstand, auch ohne das entsprechende Foto.
Peter bekamen wir sehr früh in unserer Ehe, nur wenige Monate nach unserem ersten Hochzeitstag. Michael kam zwei Jahre später zur Welt, drei Jahre danach George und Martin noch einmal drei Jahre später. Nicht Schlag auf Schlag, aber doch sehr dicht. Wenn wir noch mehr Kinder bekommen hätten, wären es bestimmt auch Jungen geworden, obwohl ich nicht sagen kann, wie viele gehackte Dattelstückchen auf unserer Hochzeitsfeier im Salat waren. Ich hatte mir immer eine große Familie gewünscht, weil ich in meiner Jugend Unmengen von Büchern über glückliche Familien mit vielen Kindern verschlungen hatte, zum Beispiel die Bobbsey-Twins-Reihe (vier Geschwister), Die Mädchenfamilie von Sydney Taylor (fünf Töchter), Von Samstag zu Samstag von Elizabeth Enright (vier Geschwister) und Im Dutzend billiger von Frank Gilbreth und Ernestine Gilbreth Carey (zwölf Geschwister natürlich), eines meiner Lieblingskinderbücher.
Vier Kinder fand ich perfekt: eine gerade Zahl zum Teilen und Paarbilden, keine Verbündung, kein Zwei-gegen-eins. Ich würde genug Zeit für sie alle haben und mit jedem meiner Kinder ungestörte Momente zu zweit verbringen. Selbst dann, wenn ich vor Wut schrie, würde ich mich an den richtigen Namen erinnern (zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch schon die Katzennamen gebrüllt habe, wenn ich wirklich wütend war), und ich konnte alle vier auf einmal in den Arm nehmen.
Zwölf Jahre lang war unser gemeinsames Leben so glorreich, wie es das Leben mit vier »Datteljungen« im Haus sein sollte. Das Wort »glorreich« wird nicht mehr sehr häufig benutzt, aber ich mag es. Es klingt nach Glanz und Glorie und
Weitere Kostenlose Bücher