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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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aus Kartoffelbrei und Bittermandelextrakt her; die Haferflocken bestanden aus mehr Hülsen als Körnern, das Brot war dunkel und zäh, weil so viele unverdauliche Fasern darin waren, und die Milch war so stark mit Wasser verdünnt, dass sie blau war. Das Baby der Familie, mein Onkel Peter, bekam die meiste Milch, aber das machte meiner Mutter nichts aus. Sie aß alles, was ihr vorgesetzt wurde, kann sich nicht daran erinnern, während des Krieges Hunger gelitten zu haben, und nahm als Einzige in der Familie sogar zu.
    1942 begann die Bombardierung Belgiens durch die Alliierten, und Verdunklung wurde angeordnet. Nachts lag die ganze Stadt in Finsternis, alle Fenster waren zugeklebt, keine Straßenlampe brannte. Tagsüber lief meine Mutter immer noch die zwanzig Minuten zur Schule und zurück, aber jetzt hatte sie ein kleines Päckchen an einer Schnur um den Hals hängen. Es enthielt ein Taschentuch, eine Trillerpfeife und zwei Zuckerwürfel: Wenn meine Mutter bei einem Bombenangriff verschüttet würde, sollte sie sich das Taschentuch vors Gesicht binden, um keinen Staub einzuatmen, die Zuckerwürfel lutschen, um bei Kräften zu bleiben, und so fest sie konnte in die Trillerpfeife blasen, bis man sie fand und rettete. Nach einer Weile wurde sie mit ihren Geschwistern zu ihrer Großmutter aufs Land geschickt. Sie weiß noch, dass sie in einem Klassenzimmer in einer Dorfschule saß und die Läuse auf dem Kopf des Jungen vor sich in der Bank zählte.
    Selbst als Kinder verstanden wir, dass das Leben in Belgien während der deutschen Besatzungszeit zwar hart, aber immer noch einfacher war als das meines Vaters, der als Weißrusse unter einer Besatzungsmacht nach der anderen gelebt hatte, allesamt unterdrückerisch. 1939 marschierten die Deutschen in Polen ein. Im Geheimabkommen mit der Sowjetunion wurde die Aufteilung Polens beschlossen, und Weißrussland fiel den Russen zu. Zwei Jahre später brach Hitler den Pakt mit Stalin und besetzte auch Weißrussland. Als sich das Blatt für Deutschland 1944 wendete, kamen die Russen zurück.
    Mein Vater war ein echtes Kind vom Lande, ein Bauernsohn mit neun Geschwistern. Sein Vater besaß Roggen- und Weizenfelder und riesige Obstplantagen mit Kirsch-, Birnen- und Apfelbäumen. Der erste Winter unter sowjetischer Herrschaft war der kälteste, den es je gegeben hatte, und alle Obstbäume erfroren. Die Jahre unter sowjetischer Besatzung waren hart, ständig drohten Deportation, Kollektivierung und Hunger. Mein Vater ging weiter zur Schule, in der jetzt Russen unterrichteten. Eines Morgens wurden die Schulbücher konfisziert, weil dem Lehrkörper aufgefallen war, dass im Buch Politiker, Generäle und Marschälle abgebildet waren, die von Stalin hingerichtet und aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung getilgt worden waren. Die Schüler verbrachten immer weniger Tage im Klassenzimmer und wurden immer häufiger zu harten Arbeitseinsätzen abkommandiert, bei denen sie Steine für den Straßenbau und Baumstämme schleppen mussten.
    Als ich ganz klein war, erzählte mein Vater mir oft, wie er zum ersten Mal ein Flugzeug sah. Es war ein sonniger Sonntag im Juni 1941, mein Vater lag träumend auf einer Wiese und blickte hoch in den Himmel. Plötzlich hörte er ein Dröhnen. Er richtete sich ungläubig auf, als ein silbernes Fluggerät durch den blauen Himmel schoss. Als mein Vater mir erklärte, es sei ein deutsches Flugzeug bei der Invasion Weißrusslands gewesen, war ich schon wesentlich älter. Die Rote Armee zog sich hastig zurück, bevor die Deutschen kamen. Ein betagter Offizier der Roten Armee warnte meinen Vater mit einem russischen Sprichwort: »Der Wolf wird für die Tränen der Schafe bezahlen müssen.« Mein Vater befürchtete, dass die Weißrussen wieder einmal die Schafe sein würden. Eine Woche später stand die Wehrmacht in seinem Dorf.
    Eine Gruppe deutscher Soldaten auf Fahrrädern hielt bei dem Bauernhof meines Großvaters. Eins der Räder musste repariert werden, und sie hatten gehört, dass mein Großvater das notwendige Werkzeug besaß. Mein Vater war einer der wenigen im Dorf, die Deutsch sprachen, weswegen sein Vater ihn hinaus zu den Soldaten schickte. Er stand auf dem Hof, reichte den Deutschen Werkzeug an und nahm die Einzelteile entgegen, als das Fahrrad auseinandergebaut wurde. Sie reparierten es und bauten es wieder zusammen. Doch die Schrauben, die das eine Pedal fixieren sollten, waren verschwunden. Die Soldaten liefen über den Hof und suchten

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