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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Mit diesem Versuchsaufbau erforscht Auster, was uns zum Weitermachen bewegt, was uns dazu bringt, den Wechselfällen des Lebens immer wieder ins Auge zu blicken. Drei Personen – ein Mann, seine Tochter und seine Enkelin – leiden an gebrochenem Herzen. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll, sie bezweifeln sogar, ob es den Versuch zum Weitermachen überhaupt lohnt. Wozu das alles? Und dann finden sie den Satz einer Dichterin, der allem einen Sinn gibt: »Die wunderliche Welt dreht sich weiter.«
    Die Welt verändert sich und mit ihr das Leben der Menschen. Ohne Vorwarnung, ohne Grund wird ein gesunder Mensch plötzlich krank und stirbt. Die Hinterbliebenen werden von einer Lawine aus Kummer, Schuldgefühl, Wut und Angst überrollt. Verzweiflung und Hilflosigkeit folgen auf dem Fuß. Doch dann verändert sich die Welt abermals – dreht sich weiter – und mit ihr das Leben. Ein neuer Tag bricht an und eröffnet mir neue, ungeahnte Möglichkeiten. Selbst im tiefen Bewusstsein von Schmerz und Trauer ahne ich, dass die Zukunft Großartiges für mich bereithält. Die wundersame Welt dreht sich weiter, voller Überraschungen, und das ist ein Grund zur Freude.
    In der Nacht vor Thanksgiving hatte ich einen Traum. Ich träumte, ich wäre in Cambridge, in England, und würde durch die Wren Library laufen. Da begegnete mir Anne-Marie, gesund und munter.
    »Ich weiß nicht, was ich als Nächstes lesen soll«, sagte ich zu ihr. »Den Philosophen aus dem 16. Jahrhundert oder die Neuausgabe der Canterbury-Erzählungen , die gerade herausgekommen ist? Was meinst du?« Erst wenige Tage zuvor hatte ich ein Buch von Susan Hill gelesen, das atmosphärisch dichte, gruselige Gemälde , das in Cambridge spielt. Daher mein Traum von Cambridge. Aber was war das für ein Philosoph aus dem 16. Jahrhundert? Und warum Die Canterbury-Erzählungen ?
    Meine Schwester war nicht im Mindesten erstaunt über meine Frage. Sie lächelte nur.
    Anne-Marie sah mich mit einem für sie typischen Gesichtausdruck an – gespitzte Lippen und gerunzelte Stirn, untrügliche Zeichen angestrengten Grübelns – und sagte: »Darüber muss ich erst mal nachdenken. Ich sag dir dann Bescheid.« Sie drehte sich um und ging davon. Sie trug ihren Yves-Saint-Laurent-Trenchcoat aus den Achtzigern, in der Taille eng gegürtet. Sie drehte sich um und winkte, dann war sie verschwunden.
    Als ich am Thanksgiving-Morgen aufwachte, wusste ich, dass die Welt sich auch für mich weiterdreht, ob ich nun schlafe oder wache. Und indem sie sich dreht, nimmt sie und gibt sie. Ich war mir sicher, dass Anne-Marie mir noch Bescheid sagen würde, ob Philosoph oder Dichter. Bis dahin hatte ich ein Versprechen zu halten.
    Am nächsten Tag las ich Unten am Fluss , alle 476 Seiten.

6
Balsam für die Seele
Jetzt, beheimatet im Körper eines Lebenden, konnte ich mich an alles erinnern, überall, jedes Mal. Es war, als sei ich auf der Rückreise, auf dem Weg zurück ins Leben.
MIA COUTO , Unter dem Frangipanibaum
      Als ich nach Jacks Anruf wieder ins Krankenhaus kam, saß mein Vater auf dem Sofa in Anne-Maries Sterbezimmer, wiegte sich vor und zurück und sagte immer wieder: »Drei in einer Nacht. Drei in einer Nacht.« Ich hatte keine Ahnung, worauf sich das bezog, und als ich Natasha später darauf ansprach, wusste sie es auch nicht. Ich wollte meinen Vater fragen, konnte aber in diesem Augenblick nicht noch mehr Trauriges ertragen. Als Jacks Schwester Mary im Juni nach langer Krankheit starb, fühlte ich mich wie unter Wasser – als ob ich in Tränen ertrinken würde. Ich war nicht imstande, zu ihrer Beerdigung zu gehen, weil ich Angst hatte, ein für allemal in Dunkelheit und Trauer zu versinken. Im Juli streuten wir Anne-Maries Asche vor Fire Island ins Meer. Ende September hielten wir eine Gedenkfeier für sie ab.
    Die Gedenkfeier fand in den beeindruckenden Räumlichkeiten des Institute of Fine Arts statt, eines prächtigen Gebäudes der New York University an der Millionaires’ Row, einem Abschnitt der Fifth Avenue. Freunde und Verwandte sprachen, dann zeigte Marvin eine Diaschau, während ein Trio mit Cello, Klavier und Violine Beethoven spielte. Es gab noch mehr Reden, und Marvin beendete die Feier mit Erinnerungen an das Leben, das er mit Anne-Marie geteilt hatte.
    Erinnerungen an Anne-Marie waren alles, was uns von ihr blieb. Eine gemeinsame Zukunft gab es nicht. Zusammen an die Zeit zurückzudenken, die wir mit Anne-Marie gehabt hatten, hieß, etwas von ihr

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