Tolstoi Und Der Lila Sessel
überall nach den Schrauben. Mein Vater rannte ihnen hinterher und versuchte ihnen zu helfen. Aber die Schrauben blieben unauffindbar. Schließlich gaben die Soldaten auf, zuckten die Achseln und bestiegen ihre Räder. Einer von ihnen schlingerte beim Versuch, mit nur einem Pedal Rad zu fahren. Später am selben Abend griff mein Vater in seine Hosentasche und fand die Schrauben darin – er hatte sie eingesteckt und dann völlig vergessen. Er wusste nicht, ob er vor Schreck über den Beinahezusammenstoß mit der deutschen Disziplin weinen oder vor Erleichterung lachen sollte.
Als wir Mädchen größer wurden und aus Büchern und im Schulunterricht mehr über den Zweiten Weltkrieg erfuhren, stellten wir unseren Eltern Fragen. Hast du jemanden gekannt, der in ein Konzentrationslager verschleppt wurde? Hast du eine echte Bombardierung miterlebt? Hast du schon mal einen Toten gesehen? Meine Mutter kannte keine Familien, die deportiert worden waren. Eine gute Freundin von ihr, die Jüdin war, überlebte den Krieg in einem Versteck. Sie selbst geriet nie in einen Bombenangriff, aber eine Schule direkt außerhalb der Stadt Antwerpen wurde 1943 von den Alliierten bombardiert. Das eigentliche Ziel des Angriffs war eine Autofabrik, in der die Luftwaffe Flugzeuge reparieren ließ, aber getroffen wurde die Schule Sankt Lutgardis. Über zweihundert Kinder starben bei dem Angriff, nur achtzehn überlebten. Ob diese Kinder wohl auch kleine Taschentuchpäckchen um den Hals trugen?
In der Zeit, als ich Jura studierte, kam der Film Komm und sieh in den USA in die Kinos. Er spielt im Weißrussland der letzten Kriegsjahre und ist der erschütterndste Film über den Zweiten Weltkrieg, den ich je gesehen habe. In einer Landschaft aus grünen Feldern und hohen Birken leiden die Menschen – gespielt von weißrussischen Schauspielern, die allesamt aussehen, als ob sie meine Angehörigen sein könnten – unter Hunger, Angst und Folter. In ihrer Hilflosigkeit versuchen sie vergeblich, sich gegen Todesmärsche, Brandstiftung und Mord zur Wehr zu setzen. Nachdem ich den Film gesehen hatte, weinte ich noch wochenlang jeden Abend. Als ich meinen Vater dann schließlich ganz direkt fragte, was er im Krieg erlebt hatte, machte er nur vage Andeutungen. Er konnte einfach nicht darüber sprechen.
Erst als die Berliner Mauer 1989 fiel, fing mein Vater an, vom Krieg zu erzählen. Doch selbst dann konnte er seine Erinnerungen nicht aussprechen, sondern er schrieb sie auf. Er saß an einer uralten Schreibmaschine, die ich in der Schulzeit benutzt hatte, und vertraute den Tasten das Grauen an, das er damals selbst erlebt hatte oder aus den Erzählungen anderer kannte. Er schrieb auf, wie seine jüdischen Freunde der Schule verwiesen wurden, als die Deutschen kamen, wie sie gelbe Judensterne tragen und auf der Straße arbeiten mussten. Später wurden sie in Arbeitslager verschleppt. Mein Vater sah in einem Dorf Leichen auf der Straße liegen. Er sah, wie ein junger Mann erhängt wurde. Eines Tages kam er an einem Feld vorbei, an dessen Ende eine Scheune stand. Die Scheune brannte lichterloh, sie war von deutschen Soldaten umgeben. Erst als mein Vater den Geruch brennender Leiber roch, wurde ihm klar, dass die verriegelte Scheune voller Menschen war. Bei dem Geruch gaben seine Knie nach, er fiel hin, stolperte und versuchte zu fliehen. In der Schule hatte er das alte Rom durchgenommen, und die Parallelen zwischen den Gräueltaten der Römer gegen ihre Feinde und dem, was er in seinem eigenen, modernen Land sah, entsetzten ihn.
Mein Vater schrieb auf, wie ein Onkel und eine Tante, die angeblich jüdischen Freunden geholfen hatten, von den Nazis festgenommen und hingerichtet wurden. Ein anderer Onkel, der für einen Kommunisten gehalten wurde, weil er in einer russischen Schule unterrichtet hatte, wurde verschleppt und blieb für immer verschwunden.
Wir wussten, dass vier der neun Geschwister meines Vaters im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen waren, die Einzelheiten blieben jedoch verschwommen. Erst als mein Vater seine Lebenserinnerungen zu Papier brachte, erfuhren wir mehr. Zuerst starb sein Bruder Peter; er fiel schon 1939 als polnischer Soldat im Kampf gegen die Deutschen. Und dann, nach dem Tod meiner Schwester, schrieb mein Vater von der schrecklichen Nacht Anfang Dezember 1943, in der drei seiner Geschwister starben. Drei in einer Nacht .
Mein Vater war in jener Nacht in der Schule in einer sechsundzwanzig Kilometer von zu Hause entfernten
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