Tolstoi Und Der Lila Sessel
festzuhalten, auch wenn mir das damals noch nicht klar war. Ich war nur gekommen, um ihr Leben zu feiern. Erst drei Jahre später, als ich José Eduardo Agualusas Roman Das Lachen des Geckos las, verstand ich, wie wichtig es ist, miteinander über Erinnerungen zu sprechen. Und wie gefährlich, es nicht zu tun.
Der Protagonist Felix Ventura hat die Fähigkeit, die Erinnerungen seiner Kunden gegen neue auszuwechseln. Die meisten von ihnen wollen eine neue Vergangenheit haben, die besser zu ihrer bedeutenden Persönlichkeit passt. Sie wollen ihrer Vergangenheit in Armut und Bedeutungslosigkeit entkommen, um es in der Welt ganz nach oben zu schaffen. Ventura verfügt über gottgleiche Fähigkeiten: Um jeden Kunden formt er eine neue undurchsichtige Haut, die sich nicht abstreifen lässt. Doch nicht alle Lebensgeschichten lassen sich auswechseln und wegwerfen. Die Vergangenheit wird sich melden und sich Aufmerksamkeit verschaffen: »Der Geruch ist noch da, das Weinen des Kindes.«
Das Lachen des Geckos ist eine fiktive Geschichte, aber sie basiert auf den realen Grausamkeiten, die während Angolas Kampf um die Unabhängigkeit von Portugal verübt wurden. Agualusa stellt sich vor, was passieren würde, wenn Opfer und Täter das Grauen der Vergangenheit vergessen würden, und führt uns vor Augen, dass ein solches Vergessen unmöglich ist. Am Ende erweist sich die Erinnerung, so quälend sie auch sein mag, als einziger Weg, mit der Vergangenheit zu leben: »Ich habe endlich Frieden gefunden. Ich fürchte nichts. Ich begehre nichts.«
Am Tag nach der Lektüre von Agualusas Buch nahm ich eine weitere Übersetzung aus dem Portugiesischen zur Hand, Mia Coutos Unter dem Frangipanibaum . Couto stammt aus Mosambik, einem Land, das genau wie Angola unter der brutalen Kolonialherrschaft der Portugiesen gelitten hat. Unter dem Frangipanibaum erzählt die Geschichte eines Mordfalls aus der Perspektive des Opfers. Der Geist des Ermordeten ist in den Körper des ermittelnden Kommissars gefahren. Sein eigener Tod bekümmert ihn weniger als die Vernichtung der »Welt der Vergangenheit«. Er befürchtet, dass die politischen Führer Mosambiks nach dem Kampf um die Unabhängigkeit nicht mehr an der afrikanischen Kultur und dem alten Brauchtum festhalten, dass sie dem Westen nacheifern und die Traditionen ihrer Vorfahren in Vergessenheit geraten lassen. Sie würden sich zu »Menschen ohne Geschichte, Menschen, die als Nachahmer leben«, entwickeln. Der Tote hingegen gewinnt im Leib des Inspektors neue Erinnerungen und ist dankbar dafür: »Jetzt, beheimatet im Körper eines Lebenden, konnte ich mich an alles erinnern, überall, jedes Mal. Es war, als sei ich auf der Rückreise, auf dem Weg zurück ins Leben.« Er erinnert sich an Gutes und Schlechtes und findet in beidem einen Schlüssel zum Verständnis seines eigenen Lebens. Indem er die »Rückreise« antritt – zurückschaut in die Vergangenheit –, findet er Frieden.
Als wir Kinder waren, erzählten unsere Eltern uns manchmal bruchstückhaft vom Krieg in Europa. Unsere Mutter wuchs in Belgien auf und erinnert sich an den Einmarsch der Deutschen 1940. Ihr Vater wurde eingezogen, um in Frankreich gegen die Deutschen zu kämpfen, und seine ganze Familie ging mit ihm und lebte bei französischen Gastfamilien, die sie teils freundlich, teils weniger freundlich aufnahmen. Meine Mutter erinnert sich, dass sie in der Bretagne mit ihrer Schwester am Strand entlanglief, als eine Truppe deutscher Soldaten auf dem Motorrad zwischen ihnen hindurchdonnerte, die Schwestern voneinander trennte und meiner Mutter schreckliche Angst einjagte. Sie weiß noch, wie sie durch zerbombte Städte in Nordfrankreich fuhren und an einem Haus in Abbeville haltmachten, dessen ganze Fassade zerstört war. Alle Zimmer lagen offen wie bei einem Puppenhaus, die Bewohner waren schon lange aufs Land geflohen. Meine Mutter musste mal, und meine Großmutter schickte sie ins Haus. Sie betrat ein reinliches Badezimmer, an dessen Wand frisch geputzte Schuhe aufgereiht standen. Sie machte einen vorsichtigen Schritt über die Schuhe hinweg und erledigte ihr Geschäft, auf drei Seiten von Wänden geschützt, vor ihr der offene Himmel.
Belgien kapitulierte innerhalb weniger Wochen, und die Familie kehrte in das von den Deutschen besetzte Antwerpen zurück. Nahrungsmittel begannen knapp zu werden und wurden rationiert. Es gab keine Eier mehr in der Stadt, keine Butter und nur wenig Zucker. Meine Großmutter stellte Marzipan
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