Tolstoi Und Der Lila Sessel
Stadt. Sein Bruder George war bei ihm, nachdem er aus einem Güterzug entkommen war, der ihn zur Zwangsarbeit in eine deutsche Fabrik bringen sollte. Die beiden Brüder wussten, dass kommunistische Partisanen in ihrer Gegend aktiv waren, Sabotageakte ausführten und Angriffe auf die Wehrmacht planten, aber davor hatten sie keine Angst. In den Jahren unter sowjetischer Besatzung hatte mein Großvater, der einen Gemischtwarenladen besaß, die Deportation der Familie nach Sibirien verhindern können, indem er die russischen Funktionäre im Ort aus seinem privaten Vorrat mit gutem polnischen Wodka versorgte. Dann, unter der deutschen Herrschaft, gab die Familie tagsüber den Deutschen, was sie wollten, nachts kamen die Partisanen und nahmen sich, was sie brauchten.
In jener Dezembernacht kam eine Gruppe von Partisanen zum Bauernhof, aber mein Großvater war nicht da. Meine Großmutter lag mit Fieber im Bett in einer Kammer hinter der Küche. Boris, zweiunddreißig Jahre alt, Antonina, dreiundzwanzig Jahre alt, und der fünfzehnjährige Sergei waren in dieser Nacht ebenfalls zu Hause. Die drei saßen in der Küche und unterhielten sich.
Mein Vater weiß nicht, wer den Partisanen die Tür aufmachte. Ich stelle mir vor, wie meine Großmutter im Krankenbett von den schweren Stiefelschritten nebenan auf den Küchendielen geweckt wurde. Auch das Stroh auf dem Fußboden konnte das Stampfen nicht dämpfen. Vier oder fünf Partisanen waren im Haus, alles Männer. Sie hörte, wie heisere russische Stimmen ihre Kinder anschrien. Was Boris, Sergei und Antonina antworteten, drang nur als Stimmengemurmel zu ihr. Dann waren da Geräusche, die sie nicht einordnen konnte, zumindest anfangs nicht, bis sie Antoninas Bitten hörte. Erstickte Worte, lautes Flehen, dann Weinen. Andere, unklare Geräusche. Und schließlich etwas, das sie nur zu gut verstand: Schüsse und das dumpfe Geräusch von etwas Schwerem, das zu Boden fällt – mehrmals. Flaches Atmen, dann Stille. Stille, dann plötzlich Teller, Stühle, Gläser, die zerschmettert wurden. Zornige Stimmen. Das Stampfen schwerer Stiefel, die sich entfernten.
Meine Großmutter war allein. Als sie in die Küche kam, war von ihren Kindern keine Spur, nur die Blutlachen auf dem Boden, dazwischen zertrümmerte Gläser, Stühle, Teller. Ihre drei Kinder sah sie nie wieder. In dieser Nacht lief sie sechzehn Kilometer zu Fuß zur Polizeiwache im nächsten Dorf, aber niemand konnte ihr helfen. Die Leichen waren von den Partisanen mitgenommen worden und wurden nie aufgefunden.
Als meine Schwester starb, galt die Wehklage meines Vaters – »Drei in einer Nacht, drei in einer Nacht« – seiner Mutter. Er rief nach ihr, über die Jahre hinweg. Es war ein Ausruf des Mitgefühls und zugleich ein Hilferuf. Mein Vater konnte einfach nicht begreifen, wie meine Großmutter den nächsten Morgen überstand, den nächsten Tag und den Rest ihres Lebens, nachdem sie innerhalb weniger Minuten die unbegrenzten Möglichkeiten dreier ganzer Leben verloren hatte. Er konnte auch nicht begreifen, wie er nach dem Verlust seiner ältesten Tochter, auf die noch so vieles gewartet hatte, nur einen weiteren Tag überstehen sollte. Wie konnte ihr Leben zu Ende sein? Wie konnte seines weitergehen?
Ich versuchte, für mich selbst herauszufinden, wie meine Großmutter den Tag nach dem Mord an ihren Kindern überlebte, und den folgenden und darauf folgenden Tag. Wie kann es sein, dass sie nicht verrückt wurde? Jetzt, da ich die Geschichte meines Vaters kannte, da ich wusste, wie seine Geschwister ermordet worden waren und wie ihre Mutter im Nebenraum gelegen hatte und zuhören musste, ohne sie retten zu können, versuchte ich das Überleben der anderen zu verstehen. Wie kann man nach so etwas aufrecht weitergehen? Wie kann ich weiterleben, wenn meine Schwester tot ist? Immer, wenn ein Mensch stirbt, müsste die Welt beben, doch dann würde sie nie mehr zur Ruhe kommen. Die Erdkugel würde im wahrsten Sinne des Wortes von Tod und Trauer erschüttert werden. Wie schaffen wir es, uns an der Erdkruste festzukrallen und weiterzumachen?
Nach Anne-Maries Tod wurde die Trauer der ständige Begleiter meines Lebens. Langsam, aber sicher wurde mir klar, dass ich nicht mehr von ihr loskäme. Trauer vernichtet die Vernunft, die ihr machtlos gegenübersteht. Alle, die mich zu trösten suchten – »Sie hätte sicher nicht gewollt, dass du so traurig bist« oder »Sie hatte ein gutes Leben« –, nannten mir vernünftige
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