Tolstoi Und Der Lila Sessel
Nachbarschaft ihren Vater bei einem Autounfall. Im selben Sommer verschwand unser Kater Milo, während wir im Urlaub waren; im September wurde Coco, unsere andere Katze, angefahren und starb. Die Jungen weinten, als wir das Tier im Garten begruben. Ihre Tränen schienen nicht versiegen zu wollen, und ich war machtlos dagegen.
Ich weiß noch, wie ich in dem Herbst allein spazieren ging, während die Kinder in der Schule waren. Ich lief durch die mäandernden Straßen unserer Nachbarschaft und verlor mich in Tagträumen. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn ich jetzt nach Hause käme, und Anne-Marie wäre da und würde auf mich warten. Erleichterung und Freude erfüllten mich allein bei der Vorstellung, wie ich über den Rasen gehen und sie bei unserem Haus sehen würde, in einem warmen Wintermantel, aus dem die dünnen Beine ragten, darüber ihr blonder Kopf, leuchtend in der Sonne. Ich lächelte, als ich mir vorstellte, was sie sagen würde: »Nein, nichts von alledem ist passiert, ich bin noch da, sieh doch, hier bin ich.« Ich umarme sie ganz fest, und wir weinen und lachen und sehen uns an. Wir sehen aus wie früher, meine Schwester und ich, ohne Falten, ohne Sorgen.
In meinem Tagtraum gehen wir ins Haus, wo ich ihr die Bücher zeige, die ich gelesen habe, und wir auf die Heimkehr der Kinder warten. »Oh, sie werden sich so freuen«, sage ich zu Anne-Marie. Auch die Katzen sind da, sind wieder lebendig, schnurren und reiben sich an unseren Beinen. Sie verstehen, dass Anne-Marie genau wie sie selbst zurückgekommen ist: damit wir alle wieder leben können wie früher. Anne-Marie sitzt am Tisch, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Kinn in den Händen, und wirkt fast gelangweilt. Die Haltung kenne ich nur zu gut. Sie langweilt sich nicht, sondern ist in Gedanken irgendwo ganz weit weg. Die Kinder kommen heim, und wir alle sind glücklich.
Wochen vergehen, und wir gewöhnen uns daran, dass Anne-Marie wieder da ist. In meinem Tagtraum vergeht eine Menge Zeit. Anne-Maries Gegenwart ist selbstverständlich, das Leben ist glorreich und schön. Es als selbstverständlich zu betrachten, dass jemand da ist, ist ein unglaublicher Luxus: Sie zu haben und nicht daran denken zu müssen, dass ich sie verlieren oder nie wiedersehen könnte, das ist ein Geschenk. Doch ich kam vom Spaziergang nach Hause, und Anne-Marie war nicht da. Ich und, noch viel schlimmer, meine Kinder haben den unschuldigen Glauben verloren, dass die Menschen, die sie lieben, immer da sein werden.
In Charles Dickens’ Roman Nicholas Nickleby trifft Nicholas auf den Baron von Grogzwig, der von der guten alten Zeit erzählt, doch dann seufzend schließt: »Aber ach! Ihre glücklichen Tage hatten Stiefel angezogen und machten sich von selbst auf den Weg.« Ich durfte nicht zulassen, dass unsere glücklichen Tage die Stiefel schnürten und von dannen zogen. Ich musste meinen Kindern Freude schenken und ihnen den Glauben zurückgeben, dass die Welt sich nicht um den Tod dreht und Leben mehr ist als das Warten auf den Tod.
Und aus diesem Grund stand ich jetzt hier in der Küche, vor einem Stapel Bücher auf der Anrichte und noch mehr Büchern nebenan auf dem Regal, die auf mich warteten, und George stand vor mir und bat mich, eins seiner Lieblingsbücher zu lesen. Ich schickte ihn mit dem Versprechen ins Bett, dass ich Unten am Fluss lesen würde. »Zusammen mit den dreihundertvierundsechzig anderen Büchern«, fügte ich hinzu.
Zwei Nächte später saß ich um Mitternacht unten, die Einzige im Haus, die noch wach war, das gerade ausgelesene Buch des Tages im Schoß. Ich hatte Mann im Dunkel von Paul Auster gelesen und an den Rand gekritzelt: »Ein Buch, das nicht besser sein könnte, eine Botschaft, die von Herzen kommt.« Ich seufzte und lehnte mich in dem alten lila Sessel zurück. Allmählich gewöhnte ich mich an das spätabendliche Lesen. So viel zu meinem Plan, in den sechs Stunden zwischen Abfahrt und Ankunft des Schulbusses mein Buch gelesen und meine Besprechung geschrieben zu haben. Pläne waren dazu da, um geändert zu werden, und jetzt endete jeder Tag mit einem Buch im Schoß. Ich saß allein mit meinem Buch unter dem Licht der Lampe, und mir war, als säße ich in einem dunklen Theatersaal vor einer Bühne, auf die ein Scheinwerfer gerichtet ist. Das ganze Stück wurde für mich allein gegeben, ohne Pause, ohne Unterbrechung, jedes Wort in Festbeleuchtung.
Mann im Dunkel erschafft eine Welt, die unsere spiegelt. Zwei Parallelwelten:
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