Tolstoi Und Der Lila Sessel
Gründe, warum ich aufhören sollte zu trauern, aber ich schaffte es einfach nicht. Wie soll man nicht weinen und wehklagen, wenn der Tod mit solcher Grausamkeit zuschlägt?
Doch jetzt hatte ich dank meiner Flucht in die Literatur eine andere Art gefunden, mit ihr umzugehen. Ich würde die Trauer nicht abschütteln, sondern sie in mich aufnehmen, sie absorbieren: durch Erinnerungen. Erinnerungen können uns die Trauer nicht nehmen, sie bringen die Toten nicht zurück, doch sie sorgen dafür, dass die Vergangenheit immer für uns da ist – die schlechten Augenblicke genau wie die guten, voller Lachen, gemeinsamer Mahlzeiten und diskutierter Bücher.
Im Gedenken an die Menschen, die uns vom Tod entrissen wurden, würdigen wir die Verstorbenen und zollen dem Leben, das sie geführt haben, Respekt. In dem Buch Die Ausgewanderten folgt W. G. Sebald den Spuren von vier Männern, die während des Krieges gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Anhand von Fotografien, Tagebüchern, Briefen und Notizen seiner Besuche bei Angehörigen und Freunden breitet er vier ungemein detaillierte und persönliche Geschichten von Entfremdung und Kampf vor uns aus. Jeder Mann und jede Geschichte ist anders, aber allen gemeinsam ist der Verlust ihrer Identität: Drei der vier verlieren im Zuge der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ihre Identität, der vierte gibt seine auf, weil er sich dem Willen seines Arbeitgebers beugt. Alle vier Vertriebenen versuchen, in ihrer neuen Heimat ein neues Leben aufzubauen, aber sie zerbrechen an ihrer Untröstlichkeit. Dank Sebalds erzählerischer Kunst sehen wir die Männer lebhaft vor uns, sie hingegen hatten sich selbst verloren; sie sahen nur Schemen oder leere Hüllen, in denen nichts – oder zu wenig – von ihrem früheren Ich geblieben war. Zwei wählen am Ende den Freitod, einer entscheidet sich für die Selbstauslöschung durch Elektroschocktherapie, und der vierte überlebt nur, weil er in seinem Atelier in einem verlassenen Lagerhaus malt. Der giftige Staub im Lagerhaus bringt ihn schließlich um.
Die Ausgewanderten ist kein fröhliches Buch, und doch ist es voller Leben. Ich kann jede beliebige Seite des Buchs aufschlagen und spüre den Puls des Lebens, das Sebald aufgezeichnet hat. »Gedenken« bedeutet für mich, liebevoll oder anerkennend an jemanden zu denken. Anzuerkennen, dass ein Leben gelebt wurde: Sebalds Buch ist ein würdevolles Gedenken an vier Menschenleben.
Ich war Mitte vierzig und saß in meinem lila Sessel und las. Mein Vater war über achtzig, und meine Schwester war im Meer, ihre Asche war unter einem blauen Himmel von uns allen verteilt worden. Und jetzt erst begreife ich die Bedeutung des Zurückschauens. Des Erinnerns. Es gab einen guten Grund, dass mein Vater endlich seine Memoiren schrieb. Es gab einen guten Grund, dass ich mir ein Lesejahr auferlegt hatte: Worte sind Zeugen des Lebens. Sie zeichnen auf, was geschehen ist, und lassen es lebendig werden. Worte erschaffen Geschichten, die in die große Geschichte eingehen und unvergesslich werden. Auch Romane bilden die Realität ab – gute Romane sind Wahrheit. Erzählungen von erinnertem Leben helfen uns, zurückzuschauen und weiterzugehen.
Das einzige Mittel gegen Trauer ist die Erinnerung; die einzige lindernde Salbe gegen den Schmerz über den Verlust eines Menschen ist das Bewusstsein, dass dieser Mensch gelebt hat. Ich glaube, mein Vater fand eine Antwort auf die Frage, wie seine Mutter weitermachte und wie er selbst weitermachen konnte. Er schrieb eine Geschichte, damit ich sie lesen konnte. Geschichten halfen ihm, und Geschichten helfen mir, die Geschichten meines Vaters und die Geschichten aus den Büchern, die ich lese.
Der Beweis für die Wahrheit des Lebens liegt nicht in der Unvermeidlichkeit des Todes, sondern in dem Wunder, dass wir überhaupt gelebt haben. An vergangene Leben zu denken bestätigt diese Wahrheit, und das immer mehr, je älter wir werden. Als ich Kind war, sagte mein Vater einmal zu mir: »Du brauchst nicht nach dem Glück zu suchen; das Glück besteht darin, dass wir am Leben sind.« Viele Jahre vergingen, bis ich verstand, was er damit meinte. Der Wert eines gelebten Lebens, der Wert des Lebendigseins an sich. Während ich gegen die Trauer um den Tod meiner Schwester ankämpfte, wurde mir auf einmal klar, dass ich in die falsche Richtung blickte. Ich sah nur das Ende des Lebens meiner Schwester und nicht ihre ganze Geschichte. Ich gab den Erinnerungen nicht den ihnen
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