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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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wurde zu einem Teich, an dessen Rand sich die Gänse versammelten. Irgendwann brachte Anne-Marie ein bemaltes Metallpüppchen mit: Es war die Eiskunstläuferin Sonja Henie, die auf dem Teich Schlittschuh lief.
    Die Heilige Familie selbst war von lauter Tieren umgeben. Ein Fuchs, ein Bär, eine Mäusefamilie, ein Löwe, verschiedene Raubkatzen, ein Stachelschwein: Sie strebten über gebauschtes weißes Leinen hinweg auf Josef, Maria und das kleine Jesuskind in der Krippe zu. Meine Großmutter hatte meinen Eltern zur Hochzeit die Grundausstattung für die Weihnachtskrippe geschenkt. Die Tiere und die über hundert Santon-Figürchen, die sich fröhlich um die Heilige Familie scharten, wurden im Laufe der Jahre dazugekauft.
    Doch in der Krippe meiner Mutter war nicht nur das irdische Leben vertreten, sondern auch Himmel und Hölle. Der Himmel wurde auf dem obersten Regalbrett eingerichtet, in einem Bogen direkt unterhalb der Decke. Dort saß Gott, eine golden und blau bemalte, gedrungene Holzfigur, inmitten der singenden himmlischen Heerscharen. Im Hintergrund spielte eine Engelkapelle. Katzenengel, dicke Engel, kleine und große Engel saßen am Rand. In eine Ecke des Himmelsregals setzte meine Mutter Homer, in die andere einen gläsernen Mann an einem gläsernen Klavier, der Mozart darstellen sollte.
    Die Hölle war im untersten Bord und auf dem Boden angesiedelt. Mit dem Aufbau der Hölle begann meine Mutter erst, als wir schon etwas größer waren, aber als sie erst mal angefangen hatte, ging es heiß her. Bald war die Hölle völlig überbevölkert mit kleinen roten Figürchen, darunter auch Minni Maus im Paillettenkleid und kleine Teufelchen, die Anne-Marie aus Ton geformt hatte; sie hatten die Arme zum freundlichen Gruß erhoben und ein äußerst liebenswürdiges Lächeln auf den pausbäckigen Gesichtern. Freunde brachten uns mexikanische Figuren vom Dia de los Muertos mit. Eine Gummischlange ringelte sich auf Nimmerwiedersehen in Richtung Hölle.
    Ich habe noch nie ein Weihnachtsfest bei meinen Eltern ausgelassen, aber Anne-Marie blieb ein paarmal fern, so auch in dem Jahr vor ihrem Tod. Zu der Zeit reiste sie mit Marvin und zwei Freunden drei Wochen lang durch Indien. Der verheerendste Tsunami der Geschichte rollte am 26. Dezember 2004 durch den Indischen Ozean. Zwar wusste ich, dass Anne-Marie keinen Abstecher an die Strände von Südindien geplant hatte, aber als wir zwei Tage nichts von ihr hörten, befürchtete ich das Schlimmste. Was, wenn sie ihre Reisepläne geändert hatten? Was, wenn sie an den Strand gefahren und von einer der Riesenwellen überrollt worden waren? Als Anne-Marie schließlich bei meinen Eltern anrief, war ich erleichtert und kam mir zugleich töricht vor, dass ich mir solche Sorgen gemacht hatte. Wieder in New York, spürte Anne-Marie einundzwanzig Tage später einen Knoten in ihrem Bauch. Eine Flutwelle brach über uns herein, allerdings eine ganz andere, als ich befürchtet hatte.
    Zum Weihnachtsfest nach Anne-Maries Tod wollte meine Mutter die Krippe nicht aufbauen. Natasha und ich bestürmten sie.
    »Bitte, tu’s für die Jungen«, sagten wir. »Tu’s für uns.« Schließlich gab sie nach und baute die Figuren in der Winterschneelandschaft auf. Mit dem Umzug meiner Eltern nach New York hatte sich die Anordnung der Krippe verändert, aber sie war so prächtig wie eh und je. Die Dörfer der Santons waren auf dem Kaminsims gruppiert, zu ihrer Linken die Heilige Familie. Neuzugänge waren ein Fuchs, der eine Gabe für das Jesuskind im Maul trug, und ein viereckiger Brunnen für den Marktplatz. Die himmlischen Heerscharen jubilierten seitlich auf einer hohen Kommode, die Hölle war im offenen Schlund des nicht funktionierenden Kamins angesiedelt. Ich schenkte meiner Mutter einen Engel mit lockigem Haar, der auf dem Bauch lag und ein Buch las. Meine Mutter platzierte ihn im Himmel, neben Homer.
    Jack und ich hatten unsere eigenen Weihnachtstraditionen, die noch aus der Anfangszeit unserer Beziehung stammten. In einer Silvesternacht küssten wir uns zum ersten Mal, und im folgenden Jahr kauften wir unseren ersten gemeinsamen Weihnachtsbaum. Es war ein mickriges kleines Bäumchen, das sich problemlos die mehr als dreißig Blocks von Little Italy zur West Twenty-first Street tragen ließ. Um die Zweigspitzen wanden wir Blumendraht mit roten Beeren – unser erster Christbaumschmuck –, und als Jacks Tochter Meredith und ich steinharte Plätzchen buken, malten wir sie an, bohrten Löcher

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