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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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gebührenden Raum. Es wurde Zeit, dass ich mich umdrehte und zurückschaute. Es war Zeit, die Rückreise in mein eigenes Leben anzutreten, und das erinnerte Leben meiner Schwester würde mich tragen.

7
Der Stern von Bethlehem
»Darf ich Ihnen sagen, warum es mir gut zu sein scheint, wenn man sich an das Leid erinnert, das uns widerfahren ist? Damit wir es vergeben können!«
CHARLES DICKENS ,
Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste
      Weihnachten und andere Feiertage sind eine ausgezeichnete Gelegenheit, um zurückzublicken. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist die, dass ich zwischen meinen Schwestern auf unserem goldenen Sofa (in den Sechzigern der letzte Schrei) sitze, während unser Vater uns aus The Christmas Story vorliest. Diese wunderbare Weihnachtsgeschichte mit Texten aus dem Matthäus- und dem Lukasevangelium wurde 1966 vom Metropolitan Museum of Art in New York herausgegeben und war mit Gemälden aus dessen Sammlung bebildert.
    Mein Vater las in einem Singsang vor, manche Worte betonte er stark, andere schwach. Heute würde ich sagen, er hörte sich an wie die schwarzen Südstaatenprediger im Fernsehen, allerdings mit einem ausgeprägten russischen Akzent.
    Die Weihnachtsgeschichte, die mein Vater uns vorlas, war fremd und berauschend. Die Bilder und Vorstellungen bewegten mich sehr: Das Kind, in Windeln gewickelt; die Hirten, die nachts ihre Herde hüteten; die Kunde großer Freude, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen und: »Wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen.« Lange bevor ich selbst Kinder hatte und den Rausch unbedingter Liebe und Zuversicht beim Anblick eines Neugeborenen erlebte, verstand ich, dass ein hilfloses Baby, das im Stroh einer Krippe liegt, selbstlose und grenzenlose Liebe hervorrufen kann. Ich sah die armen Hirten vor mir, die in der kalten Nacht allein in der Dunkelheit kauern. Plötzlich hören sie Musik, und sie blicken hinauf in den sternenübersäten Himmel. Sie sehen die himmlischen Heerscharen, und ein riesiger Stern lockt verheißungsvoll. Gewissheit erfüllt sie: Das Leben kann gut und friedlich und voller Freude sein. Liebe und Hoffnung breiten sich aus. Friede auf Erden wird von einem Kind gebracht und von einem Stern angekündigt.
    Mir als Kind der Sechzigerjahre leuchtete das alles augenblicklich ein. Ich lauschte der Weihnachtsgeschichte und ging dann nach draußen, um den Nachthimmel nach einem besonders hellen Stern abzusuchen. Ich hielt nach einem Zeichen Ausschau, dass der Krieg vorbei sein würde. Der Vietnamkrieg und der Kalte Krieg und die vielen anderen Kriege, die, wie ich als Kind vermutete, überall auf der Welt wüteten, weit weg von unserem Garten, aber in den Gärten anderer Kinder. Am Himmel nach dem Stern von Bethlehem Ausschau zu halten wurde mein ganz persönliches Weihnachtsritual, meine Suche nach Frieden.
    Meine Mutter fand Frieden in der Weihnachtskrippe, die sie jedes Jahr aufbaute. Neben der Weihnachtsgeschichte, die mein Vater uns vorlas, und dem Theaterstück, das wir Mädchen an Heiligabend aufführten, war ihre fünfstöckige Krippe für mich unsere schönste Weihnachtstradition. In den rund um den Kamin eingebauten Bücherregalen in unserem Haus in Evanston erschuf sie eine ganze kleine Welt. Flach hingelegte Bücher wurden zu Tälern, Bücherstapel zu Bergen. Die Bücher wurden mit weißem Tuch abgedeckt, sodass hügelige Schneelandschaften entstanden. Tannenzweige von unserem Weihnachtsbaum bildeten den Hintergrund. Jetzt konnte meine Mutter die Santons auspacken.
    Die aus der Provence stammenden Santons waren bunt angemalte kleine Tonfiguren und stellten die Bewohner eines traditionellen französischen Dorfes dar. Vom Dorfgeistlichen, der sich die Stirn mit einem Schnupftuch wischt, bis zu einer Frau mit einem Korb voller Früchte auf dem Kopf, von einer jungen Mutter auf dem Weg zum Markt bis zum Bauernjungen mit einem Ferkel unterm Arm waren alle vertreten. Auf den Bücherhügeln standen Kirchen, in den Tälern lagen Bauernhöfe mit den dazugehörigen Heuhaufen und Tieren. Es gab sogar ein Kloster, das ich in der siebten Klasse im Werkunterricht aus Holz gezimmert hatte und in dem bekehrte ehemalige Nachtschwärmerinnen lebten, die immer noch ihre prachtvollen Kleider trugen, aber voller Andacht aus ihren geschminkten Augen blickten.
    Aus silbrigen Eiszapfen für den Weihnachtsbaum machte meine Mutter einen Bach, der einen Hang hinunterfloss, an sein Ufer setzte sie einen Angler. Ein kleiner Spiegel

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