Tolstoi Und Der Lila Sessel
Ego. Er durfte sagen, was er wollte – mit einer quiekenden Ausgabe von Anne-Maries Stimme –, und weil er lustig und schlagfertig war, lachten immer alle über ihn. Sogar ich lachte, obwohl seine besten Sprüche auf meine Kosten gingen. Ich erzählte von Betty MacDonalds Mrs-Piggle-Wiggle-Büchern, einer meiner liebsten Buchreihen, da unterbrach Löwe mich. »Wackel, dackel, das gefällt mir. Da braucht man nur noch plumps plumps hinterher zu sagen, dann ist das mein neuer Spitzname für dich … so siehst du nämlich beim Laufen aus. Plumpsplumps wackeldackel.«
Als ich in der siebten Klasse war, stieg ich an einem Nachmittag nach der Schule in einen Stadtbus. Ich weiß nicht mehr, warum ich an dem Tag mit dem Bus fahren wollte. Vielleicht war ich nach Schulende noch länger geblieben und wollte nicht nach Hause laufen. Es war nur eine halbe Stunde zu Fuß, aber vielleicht war ich zu müde oder dachte, es würde bald dunkel werden. Aber ich weiß noch genau, wie mir auffiel, dass der Bus eine komische Strecke fuhr. Aus irgendeinem Grund fuhr er nämlich in die Innenstadt von Evanston. Ich beruhigte mich damit, dass er dort umdrehen und zurück nach Norden in unseren Stadtteil fahren würde.
Der Bus hielt kurz an dem großen Parkhaus im Stadtzentrum an, in dem auch der Busbahnhof war. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte Anne-Marie auf dem Bürgersteig. Sie sah mich im gleichen Augenblick und riss die Augen auf. Sie winkte wild mit den Armen und rief etwas Unverständliches. Der Bus fuhr an, und sie rannte laut brüllend neben ihm her. »Halt! Halt!« Der Bus hielt an, und Anne-Marie kam hereingestürzt. »Steig aus«, rief sie mir zu, »du sitzt im falschen Bus!«
Ich war in einen Bus gestiegen, der auf dem Weg zum Howard-Street-Busbahnhof in Chicago war. Der Busbahnhof befand sich in einer üblen Gegend mit finsteren Kneipen, vergitterten Schnapsläden, schmutzigen Pfandleihanstalten und heruntergekommenen Wohnblocks. Für ein zwölfjähriges Mädchen ohne Geld wäre der Busbahnhof bei einbrechender Dunkelheit und Kälte der schrecklichste Ort der Welt gewesen.
»Du hast mir das Leben gerettet«, stammelte ich und fing an zu weinen und zu zittern. Anne-Marie schloss mich in ihre Arme.
»Red doch keinen Blödsinn.«
Aber ich wusste, dass sie mich vor Schlimmem bewahrt hatte. Ich war ein furchtbarer kleiner Quälgeist, und trotzdem war sie dem Bus hinterhergerannt, mit dem ich für immer aus ihrem Leben hätte verschwinden können. Sie hatte mich vielleicht nicht sonderlich gern, aber sie liebte mich. Zusammen fuhren wir mit dem richtigen Bus nach Hause. Ich saß neben meiner Schwester und schwor mir, nie wieder heimlich ihre Sachen zu durchsuchen, sie nie wieder zu verpetzen oder ihr nachzuspionieren. Ich hatte schon vorher vermutet, dass Anne-Marie ein besserer Mensch als ich war, aber jetzt war ich davon überzeugt. Sie war nicht nur klug und schön, sondern sie hatte auch ein großes Herz und war bereit, mir zu vergeben und zu Hilfe zu eilen. Natasha war meine Freundin, mit der ich spielen konnte, die Schwester, bei der ich nach einem Albtraum Zuflucht suchte, die mich mit unter ihre Decke nahm. Aber Anne-Marie wurde mein großes Idol, mein Vorbild, dessen Anerkennung mir wichtiger war als die meiner Eltern. Und schon hatte ich sie auf ein Podest gestellt, von dem ich sie im Grunde nie wieder herunterließ.
In Per Pettersons Roman Sehnsucht nach Sibirien erleben ein Bruder und eine Schwester zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Nordjütland schwere Zeiten und brüske Zurückweisung durch ihre eigene Familie. Doch sie kommen durch, weil sie einander haben. Der Bruder, aktiv im dänischen Widerstand, muss aus der von Nazis besetzten Ortschaft fliehen. Jetzt ist das Mädchen ganz auf sich gestellt. Die starke Verbindung zu ihrem Bruder ist durchtrennt, er kann sie nicht länger beschützen und unterstützen. Ihr Leben wirkt sinnlos: »Ich bin dreiundzwanzig, und das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest.«
Was meinte Petterson mit »nur noch der Rest«? Ich interpretierte diesen Satz so, dass die junge Frau den Rest ihres Lebens allein sein wird und ein Leben ohne ihren Bruder für sie sinnlos ist. Das verstand ich nur zu gut. Ich hatte mein ganzes Leben mit meiner Schwester geteilt, und auf einmal gab es nichts mehr zu teilen. Ein Leben ohne sie konnte ich mir kaum vorstellen. Wie sollte mein Leben noch erfüllt sein? Niemand konnte mir meine Schwester ersetzen.
Anne-Marie zitierte einmal Ezra
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