Tolstoi Und Der Lila Sessel
Pound: »Was du innig liebst, ist beständig, der Rest ist Schlacke.« Was sie nicht dazu sagte, war Pounds darauf folgendes Versprechen: »Was du innig liebst, wird dir nicht weggerafft.« Nicht einmal der Tod würde mir wegraffen, was ich am innigsten liebte? Die Schwester in Sehnsucht nach Sibirien lebt noch lange und schreibt später über ihren Bruder. Sie verwandelt ihre verlorene Gemeinsamkeit in die Geschichte einer Liebe. Durch das Schreiben findet sie ihren Bruder wieder. Durch das Lesen von Geschichten, von Büchern, fand ich meine Schwester wieder.
An meinen vielen Lesetagen erinnerten mich die Protagonistinnen, die ich kennenlernte, immer wieder an Anne-Marie. Mit ihrer ruhigen Stärke und Willenskraft, ihrem völligen Desinteresse an Banalem und Belanglosem und ihrer hinreißenden Kombination von Schönheit und Intelligenz hätte sie eine Romanheldin sein können. Sicher, auch Anne-Marie hatte ihre negativen Eigenschaften, aber selbst die kamen mir immer gleichwie besonders vor. Ihr Spott war gnadenlos und traf immer, aber sie machte nie Witze über Leute, die das nicht vertrugen (grausam war sie nicht); ihre Ungeduld gegenüber der Dummheit mochte übertrieben sein, war aber nie fehlgeleitet. Selbst wenn ich die Dumme war, die einen ihrer Wutanfälle abbekam, fühlte ich mich nur selten falsch behandelt – ich wünschte mir lediglich ein bisschen mehr Nachsicht. Und die kam dann auch, irgendwann.
Die Hauptfigur in Thomas Pynchons Roman Die Versteigerung von No. 49 heißt Oedipa Maas. Sie hat starke Nerven, wird aber auch schnell nervös, ist intelligent, aber selbstkritisch, ehrlich und ernsthaft, eine Optimistin, ohne naiv zu sein. Wenn man ein attraktives Äußeres, lange Beine und langes Haar hinzufügt, dann ist Oedipa Anne-Marie. Als ich das Buch las, stellte ich mir vor, Oedipa sei meine Schwester, und mein Interesse am Schicksal der Romanfigur wuchs.
Anne-Marie war auch Aurora in Almudena Solanas Roman El Curriculum , eine Frau, die ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führt – ein ruhiges, aber erfülltes Leben. Sie versteht nicht, warum die Leute gedankenlos durchs Leben hetzen: »Warum haben die Leute so viel Angst vor dem Denken? Warum lassen sie sich keine Zeit zur Reflexion? Ruhe ist doch nichts Schlimmes, Leere, Schwindel oder Unglück auch nicht. Daraus entstehen neue Gedanken. Und deswegen lese ich gern.« Wieder stellte ich mir vor, wie Anne-Marie das zu mir sagte: Mach langsamer, nimm dir Zeit zum Nachdenken. Lies ein Buch. Und genau das tat ich.
Bisweilen war Anne-Marie zutiefst verunsichert – ungewöhnliche oder neue Situationen machten sie immer nervös –, aber als die schreckliche Realität der Krebserkrankung sie traf, reagierte sie mit eisernem Willen, Würde und Gelassenheit. Genau wie eine Romanheldin warf Anne-Marie sich selbst vor den fahrenden Zug und versuchte, mich vor dieser Wahrheit zu schützen. Sie allein stellte sich der Wahrheit in deren vollem Ausmaß. Mich schaudert es immer noch bei dem Gedanken, wie sie sich gefühlt haben muss, verängstigt, wütend, hilflos. Ich weiß nicht, ob es ihr half, mit der Krankheit umzugehen, dass sie vor mir die Tapfere spielte. Oder ob sie, indem sie mich schützte – so, wie sie es ein Leben lang getan hatte –, ihre eigene Last noch verdoppelte.
Das Gefühl der Schuld, das an mir kratzte, das Messer, das sich mitten in der Nacht in meinem Herzen umdrehte, wenn ich darüber nachgrübelte, an welcher Stelle ich versagt hatte, kam davon, wie Anne-Marie das Grauen ihrer Erkrankung ertragen hatte. Wie allein sie gewesen war. Dass ich die Last nicht mit ihr geteilt, sie ihr nicht abgenommen hatte. Außerdem hatte ich Schuldgefühle, weil ich sie damals auf ein Podest gestellt und nie wieder heruntergelassen hatte. Ich suchte nach einer Auflösung – unschuldig oder schuldig, genau wie Bolsover. Und wie Bolsover wollte ich einfach wissen, warum sie sterben musste.
In dem Buch By Chance wird Bolsover klar, dass »er kein böser, sondern ein dummer Mensch ist«. Nicht, weil er von einer Schuld freigesprochen wird, findet er Erleichterung, sondern weil er Absolution für sein Leben erhält. Ihm wird klar, dass es ein Glück ist, am Leben zu sein, und er beschließt, diese Chance zu nutzen, solange es geht. Was sonst kann er tun, als jeden Morgen aufzustehen und dem »lodernden Pfad zu folgen, den die Sonne in Orange und Gold ausgelegt hat«? Er versteht, dass »man sein Leben in die Hand nehmen muss, sonst wird
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