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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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ständig an die Menschen erinnern, die wir geliebt haben. Sie werden Teil von uns – sie sind Teil von uns. Anne-Marie ist Teil von all dem hier.«
    Meine Mutter hörte nur zu.
    »Dieses eine Jahr lang tauche ich ab, ich bleibe zwanzigtausend Meilen unter der Oberfläche, und mein normales, mit Terminen vollgestopftes, kontrolliertes Leben muss warten. Das habe ich Anne-Marie zu verdanken. Ich bin unter Wasser und schwimme zusammen mit den Autoren all der Bücher, die ich lese, ich atme Sauerstoff aus ihren Worten, und Anne-Marie ist auch da. Die Lebensgeschichten in den Romanen hauchen mir neues Leben ein. Und sie zeigen mir, wie ich Anne-Marie am Leben erhalten kann. In mir.«
    Meine Mutter nickte, den Blick zu Boden gerichtet. Ich wusste, dass sie Anne-Marie auf eine Weise vermisste, die zu schmerzlich war, als dass sie darüber sprechen konnte. Aber ich spürte ihren Schmerz in der Luft um uns, in der Hitze, die uns aus dem Kamin entgegenschlug. Durch das Gedenken an den Tod gewann das Leben plötzlich an Intensität. Und ich verstand, dass meine Mutter ihr Leben dafür geben würde, meine Schwester zurückzuholen. Doch ein solches Abkommen gab es nicht.
    Ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. Weder meine Mutter noch ich würden das Angebot des Geistes in der Dickens-Erzählung annehmen – wir hielten die Erinnerung an Anne-Marie mit ganzer Kraft fest –, doch gab es Platz für Vergebung in unserem Gedenken an sie? Vorwärtsgehen, rückwärtsschauen. Und jetzt sollte ich auch noch den Tod meiner Schwester vergeben?
    Vergeben bedeutet, zu erkennen, dass das Leben nicht fair ist, und es zu akzeptieren: »Ich vergebe dir, Leben, für die beschissenen Karten, die du meiner Schwester ausgeteilt hast.« Das konnte ich nicht. Ich akzeptierte, dass ich am Leben war und Anne-Marie nicht. Ich akzeptierte, dass ein fairer Handel weder angeboten noch gefordert werden konnte. Aber Vergebung? Davor scheute ich zurück.
    Ich löschte im Wohnzimmer alle Lampen und setzte mich neben meine Mutter aufs Sofa. So saßen wir lange zusammen im Dunkeln und sahen unseren hell erleuchteten Riesenbaum an. Vor vielen Jahren war ich hinaus in die Dunkelheit getreten und hatte am Himmel Ausschau nach dem Stern von Bethlehem gehalten. Vielleicht war ja der Stern, den ich damals suchte, genau hier. Im Weihnachtsbaum. In meiner Familie. In den vielen Büchern. In all den Erinnerungen, die ich in mir trug.
    Friede auf Erden.
    Verkündigung großer Freude.
    Vergebung war es nicht. Aber es war ein Anfang.

8
Ein Neuanfang
Hocken einem die Schuldgefühle erst mal auf der Schulter, schüttelt man sie nicht so leicht wieder ab.
MARTIN CORRICK , By Chance
      Als ich am Sterbebett meiner Schwester stand, als ich meinen Vater weinen hörte und die Hand meiner Mutter sah, die sich in das weiße Laken verkrallte, das Anne-Maries Körper bedeckte, dachte ich nur an den nächsten Atemzug, wie ich es schaffen konnte, noch einen Augenblick weiterzuleben, jetzt, da Anne-Marie tot war. Doch in den unbewussten Regionen meines Denkens keimten Schuldgefühle. Die Tage vergingen, und ich spürte, wie diese Schuldgefühle immer schwerer und sperriger wurden. Ich rang mit ihnen, wendete sie hin und her, wollte sie verstehen und abwehren. Meine Vernunft sagte mir, dass ich nicht für Anne-Maries Tod verantwortlich war. Mein irrationales Ich war sich da nicht so sicher. Monate vergingen und wurden zu Jahren, doch das Gefühl der Schuld blieb. Als Antwort darauf versuchte ich so intensiv und schnell zu leben, wie ich nur konnte: Wenn ich für zwei lebte und alle Erfahrungen machte, die Anne-Marie verwehrt blieben, würde ich meine Schuld bei ihr begleichen.
    Auch James Watson Bolsover, der Protagonist aus By Chance von Martin Corrick, trägt schwer an seinen Schuldgefühlen. Zwei Tode lasten auf seinem Leben, der Tod seiner Frau und der eines Kindes. Bolsover begegnet seinen Schuldgefühlen mit Vernunft und Zorn, mit Trauer und schließlich mit Resignation: »Hocken einem die Schuldgefühle erst mal auf der Schulter, schüttelt man sie nicht so leicht wieder ab.« Dass seine Frau an einer Krankheit starb, war ganz eindeutig nicht seine Schuld, und der Tod des Kindes war ein Unfall. Dennoch ist er überzeugt, er hätte die Krankheit lindern oder den Unfall verhindern können. Bolsover leidet, weil er weder schuldig noch unschuldig ist und es keine einfache Lösung für ihn gibt.
    Er versucht, irgendeine Erklärung für die beiden Todesfälle zu finden,

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