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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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man zu einem abgebrochenen Zweig, der von der Strömung fortgetrieben wird.«
    Die schrecklichen Schuldgefühle waren der Grund, warum ich Anne-Maries Tod nicht vergeben konnte. Meiner ältesten, klügsten, schönsten Schwester, die mir vor so langer Zeit das Leben gerettet hatte, war das Leben genommen worden.
    Ende Januar las ich die Erzählung Moonlight Shadow von Banana Yoshimoto. Satsuki, eine junge Frau, deren Freund bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, versucht, ihren Schmerz mittels ausgedehnter Dauerläufe durch die Stadt zu lindern. Jeden Morgen macht Satsuki beim Joggen auf der Brücke halt, auf der sie ihren Freund zum letzten Mal gesehen hat. Eines Morgens lernt sie auf dieser Brücke eine Frau kennen, zu der sich eine seltsame Freundschaft entwickelt: »Irgendwo tief in meinem Herzen hatte ich das Gefühl, wir hätten uns vor langer Zeit einmal gekannt, und ich war so bewegt von dem Wiedersehen, dass ich am liebsten vor Freude geweint hätte.« Diese Frau macht Satsuki ein einzigartiges Angebot: Sie darf ihren Freund ein letztes Mal sehen. Über den Fluss hinweg ruft Satsuki ihm zu: »Hitoshi, willst du mit mir reden? Ich will mit dir sprechen. Ich will zu dir, dich in die Arme schließen und mich freuen, dass wir wieder zusammen sind.«
    Ich las das Buch an einem kalten, aber sonnigen Tag, an dem ich allein zu Hause saß, die Jungen waren in der Schule, Jack bei der Arbeit. Die Katzen lagen neben meinem Sessel in den warmen Flecken des durchs Fenster hereinfallenden Sonnenlichts. Als ich Moonlight Shadow ausgelesen hatte, lehnte ich mich zurück. Hätte ich die Gelegenheit, Anne-Marie ein letztes Mal zu sehen, so wie Satsuki ihren geliebten Hitoshi, würde ich sie um Vergebung dafür bitten, dass ich diejenige war, die weiterleben durfte? Dass ich den Krebs nicht für sie auf mich genommen hatte? Nein, natürlich nicht. Solche Fragen wären egoistisch und würden uns beide nur traurig machen. Ich würde ihr stattdessen sagen, wie viel sie in mir hinterlassen hat. Ich würde ihr sagen, wie sehr ich sie liebe. Ich würde ihr versprechen, sie in meinen Gedanken und in meinem Kontakt mit den Menschen, den Dingen, den Orten, die sie zurückgelassen hatte, jeden Tag von Neuem zum Leben zu erwecken. Ich würde leben und dabei immer an sie denken: Ich war nicht allein. »Was du innig liebst, ist beständig«, daran würde ich sie erinnern. Und in der Liebe, die ich weitertrug, würde ich Vergebung finden.
    Ich ging hoch ins Schlafzimmer. Auf einem Bücherregal, oben auf einem Stapel Taschenbuchkrimis, saß Löwe. Er war zerfranst, seine glänzenden Augen hingen aus den Höhlen. Seine gelbe Mähne war im Laufe der Zeit grau geworden, sein Bauch platt. Um den Hals trug er eine orangegoldene Schleife, die Anne-Marie ihm umgebunden hatte, als sie ihn nach der Geburt meiner Söhne aus der Versenkung geholt hatte. Die Schleife stützte seinen Kopf ein wenig, der sonst abknickte, weil ein Großteil der Füllung verschwunden war. Und wieder unterhielt Löwe die Jungen mit Anne-Maries Stimme. Wieder ließ sie Löwe Witze auf meine Kosten reißen, was meine Söhne voll Verzücken und Staunen hörten und mit nicht enden wollendem Gekicher würdigten.
    Jetzt lebte Löwe bei mir weiter, er war verstummt, aber er war noch da. Ich nahm ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss auf den zottigen kleinen Kopf. Er war Anne-Maries Alter Ego und würde bei mir bleiben, genau wie Anne-Marie in meinem Herzen, solange es schlägt.
    Ich habe mich von der Schuldfrage gelöst. Mein Herz hat Narben, aber es ist frei von der kratzenden, beißenden Schuld, die es mir unmöglich machte, mir zu vergeben, dass ich weiterlebte und Anne-Marie nicht. Und wie soll es nun für mich weitergehen? Welchen »lodernden Pfad in Orange und Gold« kann ich beschreiten? Wie lebe ich?
    Ich erinnerte mich an den Auftrag, den mir das allererste Buch meines Lesejahres, Die Eleganz des Igels , erteilt hatte: Augenblicke der Schönheit auszukosten, das »Immer im Nie«. Ich suchte Frieden und entdeckte Glück. Mein Pfad in die Zukunft lag deutlich vor mir: Es war ein Pfad, der von Worten erleuchtet war, die sich zu Sätzen und Absätzen, Kapiteln und Büchern verbanden. Mein Pfad war mit Büchern gepflastert.

9
Den Eindringling willkommen heißen
Wenn du ein Buch in Gedanken und im Geist besessen hast, bist du bereichert. Aber wenn du das Buch weitergegeben hast, bist du dreifach bereichert.
HENRY MILLER ,
Die Kunst des Lesens. Ein Leben mit

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