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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Büchern
      Mitte Januar kam ein Eindringling in mein Leben. Es war Nachmittag, die Kinder waren bereits von der Schule zurück. Eine gute Freundin rief an und fragte, ob sie kurz vorbeikommen könne. Sie habe ein Buch für mich. »Ich liebe das Buch«, sagte sie. Meine Freundin – beziehungsweise das Buch, das ich aus ihren Händen empfing – war der Eindringling, der unerwartete Gast an meinem Lesetisch.
    Nach drei Monaten hatte mein Lesejahr einen guten Rhythmus von Lesen und Schreiben angenommen. Der Januar war fast vorbei, und die Katerstimmung nach den Festtagen zog mich dieses Jahr nicht runter. Ich war viel zu beschäftigt mit dem Lesen großartiger Bücher und der Herausforderung, jeden Tag darüber zu schreiben. Jeden Morgen veröffentlichte ich meine Besprechung des Buchs vom Vortag, dann ging ich zu meinem Regal und besah, was ich an Büchern gekauft oder ausgeliehen hatte. Ich suchte mir das Buch des Tages aus, begab mich zu meinem lila Sessel und fing an zu lesen. Wenn das Telefon klingelte, ging ich dran.
    »Bist du gerade beschäftigt?«, wollte der Anrufer wissen.
    »Ja, ich arbeite.« Ich saß in meinem Sessel, die Katzen in meiner Nähe, und las ein hervorragendes Buch. Das war dieses Jahr mein Job, und zwar ein sehr schöner. Ein Gehalt gab es nicht, aber Befriedigung, Tag für Tag.
    Manchmal fuhr ich morgens, nachdem ich meine Rezension ins Netz gestellt hatte, zu unserer Bücherei, um einen Blick auf den Bestand zu werfen, ob es neue Schriftsteller oder irgendetwas Neues von meinen Lieblingsautoren gab. Schnell hatte ich einen Arm voller Bücher beisammen, suchte mir ein stilles Eckchen mit einem bequemen Sessel und fing an zu lesen.
    Die Stadtbücherei von Westport bietet im gesamten Gebäude verteilt Sitzgelegenheiten, aber die besten Plätze sind die am Fenster mit freiem Blick auf den Saugatuck River. Es konnte draußen noch so kalt sein, wenn die Sonne schien und ich an einem warmen Fenster saß und auf den glitzernden Fluss hinuntersah, auf dem die Wasservögel trieben, konnte ich mich einer Illusion von Sommer hingeben. Wenn ich mich mit geschlossenen Augen der Sonne zuwandte und die orangegelben Blitze unter meinen geschlossenen Lidern leuchteten, fühlte ich mich so entspannt und wohlig warm wie auf einer einsamen Insel am Strand, allein mit meinem Liegestuhl und meinen Büchern. Wie eine Blume folgte ich der Sonne und rückte von Stuhl zu Stuhl, um immer in Licht und Wärme zu baden.
    In den ersten Monaten meines Lesemarathons hatte ich mir all meine Bücher selbst ausgesucht, auch ein oder zwei Geschenke meiner Mutter standen in dem Regal. Doch jetzt empfahlen mir Freunde – und Freundinnen – ihre Lieblingslektüre. Sie händigten mir die Bücher mit den Worten aus: »Hier, lies mal das. Ich fand es großartig, du wirst es bestimmt auch mögen.«
    Aber was war, wenn ich das Buch nicht mochte? Was, wenn ich es furchtbar fand? In den vergangenen Monaten hatte es ein oder zwei von mir selbst ausgesuchte Bücher gegeben, die ich angefangen und dann wieder weggelegt hatte, weil sie mir nicht gefielen und ich spürte, dass sich das nicht mehr ändern würde. Bei von Freunden empfohlenen Büchern hatte ich diese Möglichkeit nicht. Das Buch war ein Geschenk und musste gelesen werden. Das gehört sich so unter Freunden. Und alle Bücher, die gelesen wurden, mussten auch besprochen werden: Das war die Grundregel meines Lesejahres. Und darin lag mein Dilemma. Ich konnte das Buchgeschenk nicht mit ein paar Worten abhandeln: »Gar nicht uninteressant« oder »hübsche Landschaftsbeschreibungen«. Ich musste eine umfassende und aufrichtige Besprechung schreiben.
    Menschen geben Bücher weiter, die sie lieben. Sie möchten die Gedanken und die schönen Gefühle, die sie beim Lesen hatten, mit Freunden und Verwandten teilen. Die Liebe zu Büchern im Allgemeinen und zu einem bestimmten Buch im Besonderen mit anderen zu teilen ist eine gute Sache. Aber es ist auch für beide Seiten gefährlich. Die Schenkerin entblößt nicht unbedingt ihre Seele, aber wenn sie das Buch mit den Worten überreicht, das sei eins ihrer Lieblingsbücher, offenbart sie sich in gewisser Weise doch. Wir sind, was wir gern lesen, und wenn wir zugeben, dass wir ein Buch lieben, geben wir auch etwas von uns selbst preis, sei es die Sehnsucht nach Liebe, die Suche nach Abenteuer oder die geheime Faszination für das Böse.
    Und auf der anderen Seite steht die Empfängerin. Ist sie ein sensibler Mensch, dann weiß sie,

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