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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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zu verstehen, warum sie geschehen mussten oder wie sie verhindert werden konnten. Antworten sucht er in Büchern. Am Anfang von By Chance stellt er die Frage: »Wenn es in Romanen nicht um Verstehen geht, wozu sind sie dann gut? Sind sie reiner Zeitvertreib?«, doch die Antwort kennt er schon. Er weiß, dass gute Literatur das Verborgene aufdecken und Licht ins Dunkel bringen soll.
    Ich war an Bolsovers Seite, begleitete ihn bei seiner Suche nach dem Warum und Weshalb des Todes und hoffte inständig, er würde ein Mittel gegen das quälende Verantwortungsgefühl finden und auch mir Erleichterung verschaffen. Bolsover kam es vor, als würden sich die Schuldgefühle in seine Schulter krallen; ich spürte sie in meinem Innern: etwas Scharfes, das an meinem Herzen kratzte. An meinem immer noch schlagenden Herzen. Reiner Zufall. Jener Zufall, der meine Schwester umbrachte und mich am Leben ließ.
    Als wir Kinder waren, mochte Anne-Marie mich nicht besonders. Aus gutem Grund: Ich war eine garstige kleine Schwester. Wenn Anne-Marie nicht zu Hause war, ging ich in ihr Zimmer und nahm mir ihre Sachen. Ich borgte mir Kleider von ihr aus – sie hatte immer schönere als ich, weil sie einen besseren Geschmack hatte – und trug sie heimlich in der Schule. Nachdem ich eine ihrer Blusen getragen hatte, stopfte ich sie ganz hinten in den Schrank und tat so, als wüsste ich von nichts, wenn sie mich danach fragte.
    Eines Tages fand ich Anne-Maries Tagebuch und las es. Als sie heimkam, zog ich sie mit Bemerkungen über Scott Goodman auf, den Nachbarsjungen, in den sie verknallt war. In Wahrheit waren alle in Scott verknallt, ich auch, weil er groß war und gut aussah und einfach unglaublich nett war. Überraschend war nur, dass auch Anne-Marie ihn mochte. Ihr Geschmack stand für gewöhnlich im Kontrast zu dem, was allen anderen gefiel oder nicht gefiel. Sie war keine Rebellin, sondern vielmehr unkonventionell. Für ein sechzehnjähriges Mädchen aus dem Mittleren Westen hatte sie einen ausgeprägt guten Geschmack und ein klares Urteilsvermögen. Sie erwiderte meine Sticheleien über Scott mit messerscharfen Bemerkungen über die Winzigkeit meines Gehirns und die Größe meines Hinterteils und versteckte ihr Tagebuch da, wo ich es nie wieder finden würde. Unseren Eltern sagte Anne-Marie nichts von meiner Schnüffelei. Sie petzte nicht.
    Ich hingegen schon. Ich verpfiff Anne-Marie bei meiner Mutter, als ich Zigaretten im Badezimmer fand, und tat so, als sei ich um ihre Gesundheit besorgt. Das war ich aber nicht, damals jedenfalls nicht. Ich wollte einfach nur, dass sie Ärger bekam. Ich wollte, dass sie mich, ihre mickrige kleine Schwester, beachtete. Jede Art von Aufmerksamkeit, selbst bissige Bemerkungen, waren besser als gar nichts. Später, als ihre Seitenhiebe immer fieser und schneller kamen, wollte ich Rache dafür, dass sie mir wehtat. Heute ist mir klar, dass ich diejenige war, die den Streit zwischen uns provozierte. Ich setzte die einzige Waffe ein, die ich hatte, nämlich ihr auf die Nerven zu gehen. Anne-Marie war älter, klüger und sehr viel hübscher als ich. Doch wenn es darum ging, Ärger zu stiften, gewann ich mühelos.
    Die Dynamik zwischen uns Geschwistern funktionierte so: Natasha war die Schwester, mit der ich spielte, und Anne-Marie war die Schwester, die ich ärgerte. Wenn notwendig, konnten wir uns natürlich auch miteinander verbünden. Einmal fuhren wir in den Sommerferien durch Frankreich, und mein Vater hielt mit dem Mietwagen an einer Tankstelle. Anne-Marie saß am offenen Fenster und spielte mit ihrem kleinen rothaarigen Troll, Troll geheißen. In dem Augenblick, als mein Vater losfuhr und wieder auf die Autobahn bog, fiel Anne-Marie Troll aus dem Fenster. Unser Vater weigerte sich umzukehren und Troll zu retten. Wir waren auf einer Autobahn, weit und breit keine Ausfahrt, und wegen einer Puppe konnten wir keine Zeit verlieren.
    »Aber es ist doch Troll!«, heulte Anne-Marie. Natasha und ich stimmten ein und weinten Kilometer um Kilometer. Wir beweinten Anne-Marie, die nun ohne ihren Troll dastand, und Troll, der allein in einem fremden Land zurückblieb.
    Troll wurde durch einen großen Steiff-Hasen ersetzt und der Hase wiederum durch ein dreißig Zentimeter großes pralles Kuscheltier namens Löwe. Löwe hatte glänzende braune Augen, eine dicke goldene Mähne und einen weichen gelben Bauch. Anne-Marie hielt ihn in der einen Hand und bewegte seine Vorderpfoten mit der anderen. Löwe war ihr Alter

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