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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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konnten.
    Die Tage vergingen mit Lesen und Schreiben, mit Basteln und dem Verschicken von Weihnachtskarten, Liedersingen, Weihnachtsfeiern in der Schule – und einem Autounfall. Als ich für einen Schulbus anhielt, fuhr mir jemand von hinten drauf. Zum Glück kam ich mit einem steifen Hals davon, das Auto fuhr noch. Die Reparaturen würden bis nach den Feiertagen warten müssen.
    An Heiligabend kamen Freunde zum Essen. Am Ende tanzten wir auf dem Küchentisch. Peter war für die Musik zuständig, die anderen Männer fotografierten, und wir übrigen – zwei Mütter und sechs Kinder – ließen es vier Fuß über dem Boden krachen. Der Weihnachtsmorgen kam schnell, weil die Jungen es vor lauter Neugier, was ihnen Santa gebracht hatte, kaum aushielten. Während Jack nach New York in die Stadt fuhr, um meine Familie zu unserem Festmahl mit viel Essen und Trinken und noch mehr Essen und Trinken abzuholen, schrieb ich meine Rezension von F. Scott Fitzgeralds Roman Die Liebe des letzten Tycoon , das ich an Heiligabend gelesen hatte. Als Jack mit meinen Eltern, Natasha und ihrem Freund Philip wieder da war, hatte ich meine Besprechung ins Netz gestellt. Das Weihnachtsessen, mit Trinken, Feiern und Zuprosten, konnte losgehen.
    Es war nach zehn Uhr in der Nacht, als ich mich mit meinem Buch des Tages hinsetzte. Die Kinder lagen oben in ihren Betten, mein Vater und Jack schauten sich im Spielzimmer einen Film an, und meine Mutter und ich waren im Wohnzimmer, beide strategisch positioniert, sodass wir nahe am Kaminfeuer saßen und zugleich den Baum im Blick hatten. Die Lichterketten funkelten in der Dunkelheit der Eingangshalle. Ich legte ein paar Holzscheite nach, brachte meiner Mutter ein Glas Portwein und mir selbst eine Tasse Kakao mit einem guten Schuss Tia Maria.
    Dann vertiefte ich mich in die verrückte Geschichte von The Love Song of Monkey von Michael Graziano. Ein Mann liegt zwanzigtausend Meilen unter dem Meer regungslos im Koma und hat endlich Zeit, über sein Leben nachzudenken. Oder wie er sagt: »Es gibt keinen besseren Platz auf der Welt zum Meditieren als den Mittelozeanischen Rücken.«
    »Mama«, sagte ich und streckte den Arm nach meiner Mutter aus. »Das Buch hier handelt von einem Mann, der unter Wasser treibt – jahrelang kann er nicht sterben, aber er kann auch nicht auftauchen. Er denkt einfach nur über sein Leben nach. Und so geht es mir momentan auch.«
    »Ja?« Sie war immer bereit, mir zuzuhören.
    »Ja, es ist, also ob dieses Lesejahr auch so ein Schwebezustand wäre. Ich bin zwanzigtausend Meilen tief abgetaucht – allerdings unter einen Stapel Bücher. Und für mich gibt es keinen besseren Ort zum Meditieren. Endlich habe ich Zeit, über mein Leben nachzudenken.«
    »Und worüber denkst du nach?«
    »Dass es ein wunderschönes Weihnachtsfest war. Weil ich nur das gemacht habe, was ich wirklich wollte – wir haben unsere Familientraditionen eingehalten, ihr seid hier, und wir haben die Lebkuchenmänner gebacken. Die drei Sorten Weihnachtsplätzchen habe ich weggelassen und stattdessen ein Buch gelesen. Und dann hatte ich noch genug Zeit für ein zweites Buch! Und mit den Weihnachtskarten habe ich mich dieses Jahr auch nicht verrückt gemacht. Ich habe mich mit der Außenbeleuchtung zurückgehalten und nur ein paar Lichterketten an der Terrasse aufgehängt. Die Kinder durften den Baum und den Rest des Hauses dieses Jahr ganz allein schmücken.«
    Ich zeigte auf die Kindertische, die mit weißer Watte bedeckt waren; darauf standen Dörfer mit Krippenszenen aller Arten und Nationalitäten (meine Sammlung), Plastikweihnachtsmänner, Elfen, Rentiere und Kamele neben Holzhasen, Vögeln, einem Hund, einer Kollektion von Miniaturnussknacker-Zinnsoldaten sowie eine Arche, die mein Vater für die Jungen geschnitzt hatte, jetzt mit buntem Glitter überstäubt und in Stechpalmenzweigen gebettet. Es reichte nicht ganz an die Weihnachtskrippe meiner Mutter heran, war aber – auf seine eigene Art – auch sehr schön.
    »Und ich habe viel an Anne-Marie gedacht.«
    Das Gesicht meiner Mutter verspannte sich. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich denke ständig an sie«, sagte sie. »Wie viel Freude es ihr gemacht hätte, die Jungs groß werden zu sehen.«
    »Ich weiß.« Meine Augen füllten sich mit Tränen, aber ich sprach weiter. »Und sie erinnern sich auch oft an sie, ich glaube, sie werden sie nicht vergessen.«
    »Das hoffe ich.«
    »Durch das viele Lesen ist mir klar geworden, dass wir uns

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