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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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    Meine Mutter lief in unserer Nachbarschaft von einem Haus zum nächsten und sammelte Unterschriften. Türen wurden ihr vor der Nase zugeschlagen, böse Briefe landeten in unserem Briefkasten. Anne-Marie und Natasha bekamen von anderen Kindern zu hören, sie dürften nicht mehr mit ihnen spielen – und die zugehörigen Eltern klagten meine Mutter und meinen Vater wegen Belästigung an (die Klage wurde später fallen gelassen). Schließlich zog unsere Familie von dort weg und in ein Haus ohne rassistische Auflagen.
    Meine Mutter ging zu den Bürgerversammlungen für freies Wohnrecht, die in der schwarzen Ebenezer AME Church in Evanston stattfanden. Als Demonstrationen organisiert wurden, marschierte sie mit, und wir Kinder waren auch dabei. Die Demonstrationen fingen immer mit einer Predigt in der bis auf den letzten Platz besetzten kleinen Backsteinkirche an. Nach der Predigt strömten die Menschen nach draußen. Ich weiß noch, wie kalt es nach der Wärme in der Kirche auf einmal war und dass ich aufblickte und Hunderte von Sternen am Himmel sah. Die Luft knisterte vor Begeisterung. Es wurde viel gelacht und gesungen. Mir kam es wie ein Feiertag vor, und ich klatschte mit. Die Demonstrationsführer stellten uns in einer langen, sich windenden Schlange auf und führten den Gesang an: »We Shall Overcome«. Ein langer Marsch lag vor uns, meine Mutter setzte mich in den Buggy, meine Schwestern liefen neben uns, und langsam bewegten wir uns inmitten der riesigen Menschenmenge voran.
    So stark das Vorbild meiner Eltern auch war, als Kind hätte ich gerne gute Ratschläge von ihnen bekommen. Ich hing an den Worten, die mein Vater einmal sagte, als meine Schwestern und ich uns über etwas beklagten – »Sucht nicht nach Glück im Leben; das Leben selbst ist das Glück« – und hätte so gern mehr gehört. Ich merkte mir die Predigten, die wir in der Ebenezer-Kirche hörten, bevor wir singend durch die Straßen zogen, besonders wenn der Pfarrer Martin Luther King zitierte: »Jetzt ist die Zeit, Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes Wirklichkeit werden zu lassen … Wir werden nicht zufriedengestellt sein, bis das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom.« Wie hatte ich im Alter von vier Jahren begreifen können, was diese Worte bedeuteten? Und doch verstand ich sie.
    In den Büchern, die ich als Kind las, gaben Eltern oder andere Autoritätspersonen gern kluge Ratschläge. Ol’ Golly in Harriet, Spionage aller Art führte ständig Dostojewski, Cowper, Emerson und Shakespeare auf den Lippen, mit denen sie Harriet erläuterte, wie sie ihr Leben leben sollte. Aber meine Eltern waren anders. Sie lebten nach ihren Prinzipien, denen wir folgen konnten oder auch nicht. Ob und wie wir das machten, all die großen und kleinen Entscheidungen, blieben uns selbst überlassen.
    Nicht alle meine Entscheidungen waren die richtigen. Als Schülerin rauchte und trank ich, ich klaute Flaschen Chivas aus dem Keller, Geschenke an meinen Vater, die er nicht nachzählte. An dem Abend, als ich einen Polizeiwagen anfuhr und vom Unfallort wegrannte, war ich allerdings nicht betrunken. Im Gegenteil, ich war völlig nüchtern, wollte aber bei einer Party einem Freund helfen, dessen Wagen von einem anderen blockiert wurde. Er musste nach Hause, und da ich bemerkt hatte, dass der Schlüssel des anderen Wagens im Zündschloss steckte, bot ich an, ihn wegzufahren. Dass ich fünfzehn war und erst seit zwei Wochen Fahrstunden nahm, spielte für mich keine Rolle. Ich setzte mich hinters Steuer, drehte den Schlüssel um und fuhr rückwärts aus der Einfahrt, ohne ein einziges Mal in den Rückspiegel zu gucken. Den lauten Knall und die Wucht des Zusammenpralls werde ich nie vergessen. Ich stieg aus, sah die zerbeulte Kühlerhaube eines schwarz-weißen Polizeiautos und rannte davon. Ich lief durch mehrere Gärten und kletterte über einen hohen Zaun. Ich landete unsanft auf der anderen Seite und vertrat mir den Fuß. Humpelte nach Hause, wo die Polizisten mich bereits erwarteten. Ganz allein musste ich hinten ins Polizeiauto einsteigen, während meine Eltern in ihrem eigenen Wagen folgten.
    Abgesehen von dem fürchterlichen Abend auf der Polizeiwache kam ich mit einem blauen Auge davon. Am Tag meiner Verhandlung erschien keiner der Polizisten vor Gericht, um gegen mich auszusagen, und die Anklage wurde fallen gelassen. Die Strafe, die ich von meinen Eltern bekam, war angemessen: sechs Wochen Hausarrest. In der

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