Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
Vom Netzwerk:
geflüstert hatte, und für alles, was damals zwischen uns ungesagt geblieben war. Im Geiste versetze ich mich zurück auf das braune Sofa, halte meine Schwester in den Armen und rieche das frische Blattgrün ihres Parfüms. Ich höre die Worte Elizabeth Maguires und fühle mich getröstet. Wieder zurück in meinem lila Sessel, vor dem Fenster die tief stehende Wintersonne, eine kuschelige Katze auf dem Schoß, streiche ich über die Ärmel des grauen Pullovers: Anne-Marie ist noch da und »schaut aus dem Himmel herab«.
    Wie sehr wünschte ich, ich könnte Elizabeth Maguire davon erzählen – Ihre Worte haben zu mir gesprochen!  – und ihr sagen, dass sie tatsächlich einen »Berg, der purpurn und prachtvoll die Zeiten überdauert«, geschaffen hat, einen Berg für mich. Einen Berg aus Worten, die mir Weisheit schenken. Durch die Tür, die sie mir geöffnet hat, flüstert Elizabeth Maguire mir zu, wie kostbar, aber auch wie gefährdet das Leben ist. Sie rät mir, zu leben wie ihre großartige Fenimore Woolson: umsichtig, geistreich und unerschrocken. Sie tröstet mich damit, dass der Tod furchterregend, aber für uns alle unvermeidlich ist, und wenn sie ihm ins Auge blicken konnte, dann konnte Anne-Marie das auch.
    Maguire fand in ihrer Romanfigur Trost. Mir halfen beide Frauen. Vier Monate nach Beginn meines Lesejahrs haben mich ihre Worte gefunden. Sie flüstern mir zu und geben mir neue Kraft. Ich habe die Zitate in meinem Schatzkästlein verschlossen, und ich werde sie bei mir tragen und immer wieder zu ihnen zurückkehren.

11
Wo Wärme zu finden ist
»Ist doch alles scheißegal«, sagte er und starrte hinauf an die Decke, ohne die Decke zu sehen.
»Aber mir ist es nicht egal, Jefferson«, antwortete sie. »Du bist mir nicht egal.«
ERNEST J. GAINES , Jeffersons Würde
      In den letzten Winterwochen bin ich immer ganz verfroren. Mein Körper ist erschöpft vom monatelangen Kampf gegen die Kälte, und ich schaffe es einfach nicht mehr, mich gegen die Zugluft, die unter der Tür hindurchkommt, zur Wehr zu setzen. Auf der Suche nach ein bisschen Sonne und Wärme las ich am letzten Februartag Panther von Carl Hiaasen. Ich wusste, dass Hiaasen mich nach Florida versetzen und in ein Bad aus schwüler Hitze tauchen würde. Mit einem Kanu würde ich die endlose Wildnis der Ten Thousand Islands im südlichen Florida erforschen. Es war ein herrliches Abenteuer, doch als ich mich aus meinem lila Sessel erhob, war das Gras vor unserem Fenster immer noch braun. Der Schnee hielt sich noch in schmutzigen Haufen, die eisig unter dem kalten, grauen Himmel schimmerten. Ich war nicht länger in Florida. Ich war in Connecticut, mitten im Winter, und es war scheußlich.
    Ich setzte mich an den Computer, um die Facebook-Nachricht noch einmal zu lesen, die ich vor ein paar Tagen bekommen hatte. Sie stammte von Andrew. Vor siebenundzwanzig Jahren hatte ich Andrew ewige Liebe geschworen. Vor einem Monat hatte er sich mit mir auf Facebook befreunden wollen, und ich hatte zugestimmt. Eine Freundschaft konnte man wiederaufleben lassen. Aber Liebe? Als ich vor all den Jahren versprach, nur ihm zu gehören, war das im Grunde eine Drohung gewesen: Er verließ mich, und ich schwor ihm, dass ich ihn nie vergessen würde. »Und du wirst mich auch nie vergessen«, war mein Abschiedsfluch.
    Als ich in Reiterferien war, verliebte ich mich zum ersten Mal. Ich war zwölf, genau wie Tim, ein Junge aus Milwaukee. Wir beteten einander an. Als die vier Wochen Ferienlager vorbei waren, sahen wir uns nie wieder, aber ich dachte noch viele Monate lang an ihn.
    Das nächste Mal verliebte ich mich im Alter von siebzehn Jahren in Sevilla in einen jungen Spanier. Ich lernte ihn am ersten Tag einer zehntägigen Klassenfahrt durch Spanien kennen. Er war mit dem Mädchen aus meiner Gastfamilie befreundet. Alicia war ein nettes Mädchen, aber etwas wild, mit schwarz umrandeten Augen, grellrot angemalten Lippen und einem Päckchen Zigaretten in der Gesäßtasche. Ihr Vater war streng, ein Professor und konservativer Katholik, aber er vergötterte seine Tochter. Solange sie gute Noten hatte, erklärte sie mir, durfte sie so ziemlich alles machen, was sie wollte. Und sie wollte spätabends mit ihrem Freund ausgehen und bis in die frühen Morgenstunden fortbleiben. In unserer ersten Nacht unterwegs stellten die beiden mir Alfonso vor.
    Alfonso mit seinen geschwungenen Lippen und großen braunen Augen war schön. Er hatte eine gerade Nase, perfekte Wangenknochen

Weitere Kostenlose Bücher