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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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sich eine tiefe Freundschaft. Fenimore heiratet nie, genau, wie sie vorhergesagt hatte. Sie bleibt unabhängig, pflegt romantische Intermezzi mit einem langjährigen Liebhaber und Freundschaften wie die zu Henry James.
    Während ich Fenimore las, merkte ich, wie mir Constance immer sympathischer wurde. Sie liebt das Leben, beweist einen starken Willen, wenn es um die Umsetzung ihrer Wünsche geht, und ist eine begeisterte Leserin. Die Worte, die Maguire ihr über das Wunder des Lesens in den Mund legt, unterstrich ich mehrmals: »Hat es Ihnen schon einmal das Herz gebrochen, wenn ein Buch zu Ende geht? Kennen Sie es, dass ein Schriftsteller Ihnen noch ins Ohr flüstert, lang nachdem Sie die letzte Seite umgeblättert haben?« Ja, und wie!
    Als ich auf der Highschool war, legte ich ein Tagebuch mit Lieblingszitaten an. Dieses Tagebuch war meine Schatztruhe. Ich wollte die Worte aufheben, die mir von geliebten Schriftstellern ins Ohr geflüstert wurden, damit sie immer für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Damals hoffte ich, dass ich, wenn ich im Geiste dieser Worte lebte, stärker, klüger, mutiger und liebenswerter würde. Die Zitate, die ich in meinem Tagebuch sammelte, gaben mir Zuversicht. Mit ihrer Hilfe würde ich Herausforderungen begegnen und Schwierigkeiten bewältigen.
    Natürlich fand ich auch bei meinen Eltern Rat fürs Leben. Aber meine Eltern hatten weder Sinnsprüche oder familiäre Redensarten parat, noch hielten sie uns lange Vorträge. Manchmal nannte mein Vater uns »kleine Schmarotzer«, wenn wir mehr Taschengeld haben wollten oder darüber meckerten, wie oft wir Rasen mähen und Unkraut jäten mussten, aber weder er noch meine Mutter machten große Worte um die Grundprinzipien, nach denen sie lebten. Wir lernten einfach aus ihrem Verhalten.
    Meine Eltern liebten ihre Arbeit, und wir bekamen nie irgendwelche Klagen darüber zu hören, dass sie früh aufstehen oder bis spätabends arbeiten mussten (meine Mutter, als sie Fachbereichsleiterin an der Northwestern University war, und mein Vater in den vielen Nächten, in denen er Notdienst hatte). Sie liebten schöne Musik, Schubert und Brahms, und sangen bei Jacques Brel, Georges Moustaki und Nana Mouskouri mit. Jeden Sonntag war unser Haus von Musik erfüllt, die uns beim ausgedehnten Mittagessen und den ganzen gemütlichen Nachmittag lang begleitete. Meine Eltern kümmerten sich gerne um andere, besonders um jene, die Außenseiter waren wie sie selbst. Oft blieben Gäste zum Essen bei uns oder über Nacht, manche waren Neueinwanderer, andere neue Kollegen oder Studenten, die das Heimweh plagte. Unser Haus stand allen offen, die ein bisschen Rückhalt brauchten oder familiäre Atmosphäre oder einfach ein hausgemachtes Essen.
    Mein Vater war Chirurg und operierte an drei Chicagoer Krankenhäusern, aber er hatte auch eine Praxis in dem großen polnischen Viertel im Westen Chicagos. Konnten Patienten ihre Rechnungen nicht begleichen, nahm mein Vater auch Versprechungen, selbst bestickte Kissen, Häkeldecken oder Schnaps anstelle von Bezahlung entgegen. Kissen und Deckchen brachte er mit nach Hause, den Wodka ließ er in der Praxis. Einmal hörte er bei der Arbeit eine Explosion im Abstellraum. Vier Flaschen selbst destillierten Wodkas waren geplatzt, der Fusel erfüllte die Luft mit Kopfschmerz verursachendem Dunst, der ganze Boden war voller Glasscherben.
    Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist eine Demonstration für freies Wohnrecht, zu der meine Mutter mich mitnahm. Das war im Herbst 1966, ich war gerade vier geworden. In jenem Sommer war Martin Luther King mit seiner Bürgerrechtsbewegung auch nach Chicago gekommen, wo er sich für die Öffnung weißer Wohngegenden für schwarze Familien einsetzte. Auch in Evanston wurde eine Integrationskampagne organisiert, und es gab lange Märsche, die im vorwiegend schwarzen Teil der Stadt losgingen und dann durch die Viertel der Weißen zogen.
    Meine Eltern hatten aus erster Hand Erfahrungen mit segregierten Wohnverhältnissen gemacht. 1964 kauften sie ein Haus in einer kleinen Siedlung zwischen Evanston und Skokie. Erst nach dem Einzug entdeckten sie eine Klausel in der Besitzurkunde des Hauses, auf die sie keiner der Anwälte beim Abschluss des Kaufvertrags hingewiesen hatte: Der Verkauf unseres Hauses in der ruhigen Sackgasse an »Nichtweiße« war untersagt. Meine Eltern waren empört und setzten, zusammen mit einigen anderen Familien, eine Petition auf, um die Entfernung der Klausel zu

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