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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Schule hatte ich viel mehr auszustehen. Ich wurde ständig mit dem Vorfall aufgezogen, und Schüler, die ich noch nicht einmal kannte, zeigten auf mich und lachten mich aus. Viele meiner Freundinnen wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich nach der Schule oder am Wochenende nicht ausgehen durfte oder weil ihre Eltern nicht wollten, dass ich schlechten Einfluss auf sie ausübte. Ein paar gute Freundinnen hielten mir die Treue, und meine Schwester Natasha blieb abends zu Hause, um mir Gesellschaft zu leisten. Anne-Marie war schon zum Studium ausgezogen und fand den ganzen Vorfall ungemein erheiternd. Wenn ich heute auf die Sache zurückblicke, wird mir klar, wie viel Glück ich hatte, dass niemand verletzt wurde – und der Hausarrest heilte mich vom viel zu frühen Trinken und Rauchen. Ich weiß noch, dass ich in dieser Zeit Trost bei meiner Zitatensammlung suchte. Die Worte halfen mir, das Chaos durchzustehen, das ich selbst angerichtet hatte.
    Das Schultagebuch mit Lieblingszitaten besitze ich heute noch. Die Mischung aus Berühmtem und Unbekanntem zeugt davon, wie ich als Jugendliche um Antworten auf das Leben rang. Es gibt zwei Zitate aus Ein anderer Frieden von John Knowles: »Ein anmaßender Überlebenswillen regte sich noch immer« und »Einzig Phineus fürchtete sich nie, einzig Phineus hasste nie«. Nach dem Auffahrunfall ging ich hoch erhobenen Hauptes durch die Schulkorridore, wobei ich »fürchtete sich nie, hasste nie …« vor mich hin murmelte. Aus Margaret Mitchells Vom Winde verweht hatte ich mir »Morgen ist ein neuer Tag« notiert, und auch diese Worte halfen mir bei meinem Spießrutenlauf. Vor dem Einschlafen tröstete ich mich mit anderen Zitaten wie jenem, das ich mit großen geschwungenen Buchstaben aus Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht kopiert hatte: »Nicht die anderen bestimmen uns, sondern der Sinn unseres Lebens ist selbstbestimmt.«
    Auch jetzt hatte ich guten Rat wieder bitter nötig. Guten Rat aus Büchern. Ja, ich wollte Knowles Motto vom »anmaßenden Überlebenswillen« befolgen, aber das Wie war noch unklar, das musste ausgearbeitet und angereichert werden: Ich musste mein Schatzkästlein der Weisheiten aufklappen und neu bestücken. Von düsteren und strahlend-hellen Erfahrungen zu lesen würde mir helfen, diese schwere Zeit durchzustehen.
    Historisch belegt ist, dass die an einem grippalen Infekt und einer Depression leidende Constance Fenimore Woolson im Alter von dreiundfünfzig Jahren entweder in den Tod sprang oder fiel. Aber Maguire hält ein anderes Ende für ihre Hauptfigur bereit. Bei ihr erfährt Woolson, dass sie einen Gehirntumor hat und nur noch wenige Monate leben wird. Elizabeth Maguire, die Autorin, erkrankte an Eierstockkrebs, als sie Fenimore schrieb, und beendete den Roman in den letzten Monaten ihres Lebens, bevor sie mit siebenundvierzig Jahren starb. Hat Maguire Woolsons Schicksal umgeschrieben, damit sie von ihrer eigenen Angst vor dem Tod und schließlich auch von der Hinnahme ihres Schicksals sprechen konnte? Ich bin mir sicher, dass wir Maguire hören, wenn sie Woolson sagen lässt: »Es ist kaum zu glauben, aber nach dem ersten Schock folgte eine Phase relativer Ausgelassenheit. Plötzlich rückten die kleinen Sorgen des Alltags … in den Hintergrund. Es war, als hätte ich einen Freifahrtschein für den unsozialsten Egoismus erhalten.«
    Maguire, selbst Geschichtenerzählerin, berichtet mit der Stimme der Erzählerin Fenimore Woolson von ihren eigenen Kämpfen: »Geschichtenerzähler leben nun einmal im Futur. Mein Leben lang hatte ich mich aus niedergedrückter Stimmung befreit, indem ich mir ausmalte, was wohl morgen sein würde. Jetzt gab es kein Morgen mehr. Ich musste alles so nehmen, wie es heute war. Das war eine Herausforderung für mein pragmatisches Ich.« Bewegend beschwört sie den Wunsch weiterzuleben und lässt die Leser an ihrer Verzweiflung teilhaben: »Tot … es ist unmöglich, sich selbst als tot vorzustellen, nicht wahr? … Doch natürlich war ich in meiner Vorstellung noch da und schaute aus dem Himmel herab … Mir scheint, ich bin nur ein kleines Loch, das mit einer Kinderschaufel in den Sand gegraben wurde und mit dem nächsten Gezeitenwechsel verschwindet. Lieber wäre ich ein Berg, der purpurn und prachtvoll die Zeiten überdauert.«
    Die Worte, die Maguire ihrer Figur Fenimore Woolson in den Mund legt, stehen für mich für das, was Anne-Marie an jenem Nachmittag in ihrem Arbeitszimmer in mein Haar

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