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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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und ein Grübchen beim Lächeln. Er wirkte ein klein wenig verlottert mit seinem fettigen Haar, der Hose, die nur von einem zusammengeschnürten Ledergürtel festgehalten wurde, und dem Hemd, unter dem sein nackter Rücken zum Vorschein kam, wenn er sich vorbeugte. Er war liebenswert und höflich und kein bisschen arrogant. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. Diesen ersten Abend verbrachten wir in einer Bar in der Nähe und tranken Bier, dann machten wir uns auf den Weg in einen Park in Sevilla. Alicia und ihr Freund küssten sich neben uns auf der Bank, während Alfonso und ich krampfhaft versuchten, Konversation zu machen; sein Englisch war nur ein klein bisschen besser als mein Spanisch.
    Alfonso liebte seine Heimatstadt, von der er mir viel erzählte. Sevilla war jahrhundertelang eine muslimische Hauptstadt gewesen, was die vielen maurischen Bauwerke überall erklärte. Dann kam Ferdinand III., der katholische König aus Nordspanien, vertrieb die Moslems und zog selbst in den Alcázar ein, den vormals islamischen Palast.
    »Den musst du besichtigen. Er ist so schön.« Alfonso nahm meine Hand.
    Die Kathedrale Santa María de la Sede in Sevilla wurde an derselben Stelle erbaut, wo vorher die große Moschee der islamischen Herrscher gestanden hatte. Neben der Kathedrale befindet sich heute noch die Giralda, ein ursprünglich als Minarett gebauter Turm. Im Turm sind keine Treppenstufen, sondern es gibt eine Rampe, sodass die Muezzins zu Pferd hinaufkonnten.
    Alfonso erklärte mir, Sevillas Motto »No me ha dejado« bedeute, Sevilla würde seine Einwohner nie im Stich lassen.
    »Und ich werde Sevilla auch nie im Stich lassen«, sagte er voller Überzeugung, drückte meine Hand und sah mir tief in die Augen. Ich war hingerissen.
    Die nächsten sechs Tage verbrachte ich jeden Nachmittag und Abend mit Alfonso. »Semana Santa«, die Karwoche, hatte begonnen. Jeden Tag fanden lange Prozessionen statt, bei denen Männer mit weißen Umhängen und Spitzhauben hinter bunten Madonnenstatuen auf Festwagen hergingen. Die Männer wurden Nazarenos genannt, auf dem Rücken trugen sie große Holzkreuze zum Gedenken der Leiden Christi. Die Zuschauer feuerten sie an, warfen Geld, Geschenke und Blumen auf die Pasos und folgten der Prozession singend und wehklagend.
    Sobald der Umzug vorbei war, ging es in die Bars. Ein beliebtes Feiertagsgetränk war die Postura, eine Mischung aus Gin und Weißwein. Mir schmeckte das herbe Getränk, das feurig durch die Kehle floss und bis in den Bauch hinunter brannte. In den Bars drängte man sich dicht an dicht, und der Geruch der Sägespäne auf dem Boden vermischte sich mit dem Rauch der Ducados und Marlboros. Für ein Mädchen aus dem amerikanischen Mittleren Westen wie mich war das alles wie Carmen , in die heutige Zeit versetzt. Und an meiner Seite hatte ich meinen eigenen Torero. Wir küssten uns leidenschaftlich in den dunklen Ecken der vollgestopften Bars und steckten einander frische Garnelen, knoblauchgetränkte Kartoffeltortillas und fleischige grüne Oliven in den Mund.
    Gegen Ende der Karwoche war es an Alfonso, eins der schweren Holzkreuze durch die Gassen Sevillas zu tragen. Ich konnte nicht erkennen, welcher der unter den Spitzhauben verborgenen Männer er war, und jubelte jedem Vorbeigehenden zu. Am nächsten Tag nahm Alfonso mich mit nach Hause und stellte mich seinen Eltern vor. Er wohnte in einem großen Steinhaus an einem ruhigen Platz mit Kopfsteinpflaster und Orangenbäumen. Wir saßen in einem Zimmer mit einer fünf Meter hohen Decke und gemusterter Tapete. An den Wänden hingen schwere, düstere Porträts, und wir saßen auf reich geschnitzten Stühlen, genau wie die, die ich zehn Jahre später in der Ausstellung spanischer Räume im Metropolitan Museum of Art wiedersehen sollte. Seine Eltern sprachen ein klangvolles Englisch und boten mir Orangenlimonade und Mandelplätzchen an. Plötzlich beugte sich Alfonsos Mutter vor, um ihren Sohn näher zu betrachten, genauer gesagt seinen Hals. Denselben Hals, den ich keine acht Stunden zuvor leidenschaftlich mit kleinen Bissen bedeckt hatte.
    » Hijo! Du hast blaue Flecken am Hals!«
    Ich sank tiefer in die Polster meines Stuhls aus dem 18. Jahrhundert.
    »Das kommt vom Kreuztragen, Mama.«
    »Du bist ein guter Junge«, sagte sie und lehnte sich lächelnd wieder zurück.
    Am nächsten Morgen wurde ich angefahren. Nach einer langen Nacht überquerte ich blindlings die Straße, ohne das Auto kommen zu sehen. Ich weigerte mich,

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